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Kawauchi: Strahlende Heimat

Martin Fritz, z. Zt. in Kawauchi11. März 2013

Zwei Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima kehren meist nur die Alten in die evakuierten Gebiete zurück. Denn das Grundproblem kann auch die aufwändige Dekontaminierung nicht beseitigen.

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Dekontaminierung einer Straße (Foto: picture alliance)
Bild: picture alliance/AP Photo

Die elektronische Tafel auf dem Hof der Grundschule von Kawauchi zeigt 0,09 Mikro-Sievert pro Stunde an. Bei dieser Strahlung weit unter dem Grenzwert von 1 Milli-Sievert pro Jahr ist das Spielen draußen völlig ungefährlich. Trotzdem sind erst 16 von 114 Schülern zurückgekehrt, seitdem der Evakuierungsbefehl für die Kleinstadt aufgehoben wurde. Nur die 13 Lehrer sind alle wieder da. "Wegen der Strahlung mache ich mir keine Sorgen", versichert die 10-jährige Mariko. Doch Direktor Hitoshi Takashima empfindet eine dumpfe Bedrohung. Er habe Angst vor einem neuen Unfall: "Ich kann nicht vergessen, wie nahe die Atommeiler sind."

Die Kleinstadt Kawauchi zieht sich durch ein langgestrecktes Tal mit Reisfeldern. Auf den sanften Hügelketten liegt Anfang März noch viel Schnee. Seit Generationen leben die Menschen hier eng verbunden mit diesen Schollen - bis vor zwei Jahren die Atomkraftwerke von Fukushima Daiichi, nur 20 Kilometer Luftlinie entfernt, außer Kontrolle gerieten. Ein Teppich aus radioaktiven Partikeln legte sich wie ein unsichtbarer Schleier über die Idylle. Alle Einwohner mussten fliehen.

Bürgermeister: "Kawauchi ist in meinen Erbanlagen verankert"

Zwei Jahre später regt sich wieder Leben in der Stadt. Die Strahlung ist nicht so hoch, dass eine Rückkehr auf Jahre unmöglich ist - anders als etwa in der 20 Autominuten entfernten Ortschaft Tomioka, die für fünf Jahre gesperrt bleibt.  Nur das Übernachten in Häusern innerhalb der ehemaligen Sperrzone ist noch verboten. Treibende Kraft für den Neuanfang ist Bürgermeister Yuko Endo. "Kawauchi ist in meinen Erbanlagen verankert, denn Heimat ist gleichbedeutend mit Lebensgeschichte", erklärt er seine Motivation. Schon aus genetischen Gründen müsse er daher zurückkehren.

Porträt von Yuko Endo, Bürgermeister von Kawuchi (Foto: ap)
Yuko Endo, der Bürgermeister von KawauchiBild: picture-alliance/dpa

Sein Bekenntnis zur Heimat trifft den Kern des Problems, dem sich Japan seit der Atomkatastrophe von Fukushima stellen muss. Was soll mit den 160.000 Menschen geschehen, die durch die radioaktiven Wolken vertrieben wurden? In Tschernobyl in der Ukraine wurde diese Frage durch die Umsiedlung der Anwohner beantwortet. Für Bürgermeister Endo kommt das nicht in Frage. "Wir dürfen nicht den Stolz verlieren, dass das Leben hier einen Wert hat", meint er. Nur in der Heimat lebe man ruhig und geborgen. "Das alles möchte ich bewahren."

Teure Dekontaminierung

Der Erhalt der Heimat kostet Unsummen. Die Dekontaminierung allein von Kawauchi hat schon 83 Millionen Euro verschlungen - 30.000 Euro für jeden Einwohner. In der ganzen Region Fukushima werden 8 Milliarden Euro ausgegeben, um evakuierte Gebiete, die nicht zu sehr verstrahlt wurden, bewohnbar zu machen. Trotzdem wird ein Restrisiko für die Gesundheit bleiben. Die Evakuierten müssten selbst entscheiden, ob sie dieses Risiko tragen wollen, wie der Bürgermeister betont.

13 Lehrer und 16 Schüler sind in die Grundschule in Kawauchi zurückgekehrt. (Foto: DW/Fritz)
13 Lehrer und 16 Schüler sind in die Grundschule in Kawauchi zurückgekehrtBild: DW/Martin Fritz

Doch die teure Dekontaminierung hat kaum jemanden beruhigt. Von 2800 Einwohnern wollen 700 nicht mehr zurück. 500 leben wieder in Kawauchi, weitere 700 kommen tagsüber zur Arbeit. Bürgermeister Endo nennt drei Gründe für die Zurückhaltung: "Erstens gibt es eine allgemeine Angst vor Radioaktivität, zweitens sind die kaputten Reaktoren immer noch nicht unter Kontrolle, drittens fehlt Kawauchi die Bequemlichkeit einer Großstadt."

Landwirtschaft soll wieder belebt werden

Äcker und Felder wurden so gereinigt, dass dieses Jahr wieder Reis gepflanzt werden kann. Kazuo Watanabe, Chef des Bauernkomitees, verlegt dafür mit einem Bagger gerade neue Kanäle. "Für die jüngeren Bauern gibt es endlich einen Grund zur Rückkehr", freut sich Watanabe. Von stark kontaminierten Feldern wurden die obersten fünf Zentimeter Erde abgetragen. Die anderen Äcker wurden bis in 20 Zentimeter Tiefe umgepflügt. Die Bauern erhalten neue Samen von der Regierung, die Ernte wird komplett vom Staat aufgekauft. Das dämpfe die Angst der Bauern, dass niemand ihren Reis haben will, meint Watanabe.

Wenn der 68-Jährige in seiner dünnen Jacke im eisigen Wind auf dem Feld steht, spürt man, wie verwachsen er mit diesem Boden ist. Eigentlich gelten die Menschen hier als besonnen. Doch Watanabe kann seine Wut nicht zügeln. "Der Energiekonzern Tepco hat diese Katastrophe verschuldet. Warum hat dieser Konzern das Recht, uns ein Formular unter die Nase zu halten, damit wir entschädigt werden?" Dennoch zögert Watanabe mit einer Generalkritik an der Atomkraft. "Der alte Sicherheitsmythos ist zerstört, das denken alle hier", meint er. Aber ohne Tepco hätten die jüngeren Bauern, die Reis nur im Nebenerwerb anbauen, keine Arbeit.

Neue Infrastruktur notwendig

Früher war das Leben in Kawauchi auf die Küste orientiert. Viele Bewohner arbeiteten in den zehn Reaktoren der Atomanlagen Fukushima Daiichi und Daini und einem Kohlekraftwerk. Richtung Küste lagen die Oberschulen, die Krankenhäuser, die Altenheime, die Hochzeitshallen und das Krematorium. Kawauchi war eine Schlafstadt. Aber nun ist der Weg zur Küste wegen der Strahlung versperrt.

Bürgermeister Endo mit Manfred Rauschen vom Öko-Zentrum und NRW-Umweltminister Remmel bei der Grundsteinlegung des Solarparks (Foto: Öko-Zentrum)
Bürgermeister Endo mit Manfred Rauschen vom Öko-Zentrum und NRW-Umweltminister Remmel bei der Grundsteinlegung des SolarparksBild: Öko-Zentrum NRW

Daher will Bürgermeister Endo diese Infrastruktur neu schaffen. Dann würden auch Evakuierte nach Kawauchi ziehen, deren Städte nahe der Küste auf Jahre unbewohnbar bleiben. Die einfache Lösung, das unbeschädigte Atomkraftwerk Fukushima Daini zwölf Kilometer südlich der Katastrophen-Meiler wieder in Betrieb zu nehmen, lehnt er ab. "Würden wir hier weiter Atomstrom erzeugen, lacht doch die ganze Welt über uns", sagt er nachdenklich. "Aus dieser Katastrophe muss man Lehren ziehen, sonst hatte sie doch gar keine Bedeutung."

Solartechnik aus Deutschland

Daher haben sich der Bürgermeister und der Bauernpräsident für den Bau eines Solarkraftwerkes eingesetzt. Auf neun Hektar Wiesen werden ab April die ersten Solarmodule für die 4,5-Megawatt-Anlage montiert. Die Region Fukushima gehört zu den sonnenreichsten in Japan. Das Kraftwerk ist ein deutsch-japanisches Projekt - Module kommen aus Deutschland und Wechselrichter aus Japan. "Die Solaranlage verbraucht nur drei Prozent der Agrarfläche, aber es könnten noch mehr Anlagen folgen", berichtet Manfred Rauschen, Geschäftsführer vom Öko-Zentrum aus Hamm, der das Projekt in Kawauchi durchführt.

Der Schwenk zu erneuerbaren Energien symbolisiert jenen Neuanfang, den sich Bürgermeister Endo für Kawauchi wünscht. Bis 2040 will die ganze Präfektur Fukushima nur noch "grünen" Strom konsumieren. Doch das Cäsium aus den kaputten Atommeilern wird die Menschen in der Region weiter bedrohen. In einem abgelegenen Tal am Rand der Gemeinde stapeln sich nämlich 35.000 riesige blaue Säcke voller verstrahlter Erde und kontaminierter Äste, Blätter und anderer organischer Abfälle - auf früheren Buchweizenfeldern in langen Reihen doppelt und dreifach aufeinander getürmt und größtenteils mit grünen Planen abgedeckt.

Vier Deponien für verstrahlte Gegenstände sollen um Kawauchi entstehen. (Foto: DW/Fritz)
Vier Deponien für verstrahlte Gegenstände sollen um Kawauchi entstehenBild: DW/Martin Fritz

Vier solche Deponien mit insgesamt 200.000 Säcken werden in Kawauchi entstehen. "Der gesamte Abfall soll nach drei Jahren wieder von hier verschwinden", erzählt Bürgermeister Endo. Doch der japanische Staat kann dieses Versprechen vielleicht nicht halten. Bisher gibt es nicht einmal Zwischenlager für diese gefährlichen Überbleibsel der Katastrophe von Fukushima, die so vielen Japanern die Heimat genommen hat.