Europa der Nationalstaaten
30. Dezember 2017Von einem Europa der Regionen ist oft die Rede. Mit dem Ausschuss der Regionen haben sie sogar eine eigene Interessensvertretung in Brüssel. Doch in einer Auseinandersetzung zwischen Staat und Region setzt die EU auf den Nationalstaat. Das haben im abgelaufenen Jahr besonders die Katalanen erfahren müssen, jedenfalls diejenigen, die gern einen eigenen Staat Katalonien hätten. Ihr Held war Carles Puigdemont. Bis zu seiner Absetzung durch die spanische Zentralregierung und seiner anschließenden Flucht nach Belgien schien der katalanische Ministerpräsident durch nichts zu stoppen. Allen Madrider Warnungen zum Trotz arbeitete er zielstrebig auf eine Volksabstimmung über eine Unabhängigkeit hin.
Am 1. Oktober war es soweit. 90 Prozent der Stimmberechtigten sprachen sich für die Loslösung von Spanien aus. Allerdings nahmen nur knapp 43 Prozent der Wahlberechtigten teil. Von einem eindeutigen Mandat konnte also keine Rede sein. Aber selbst wenn die Wahlbeteiligung höher gewesen wäre, hätte das nichts am Urteil des spanischen Verfassungsgerichts geändert, das das Referendum für verfassungswidrig erklärte. Puigdemont leitete jedoch aus dem Referendum ein "Recht auf Unabhängigkeit" ab. Der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy von der konservativen Volkspartei andererseits wollte eine Abspaltung unbedingt verhindern. Als das katalanische Parlament Ende Oktober für die Unabhängigkeit stimmte, erklärte Rajoy unter Berufung auf Artikel 155 der spanischen Verfassung die Regionalregierung in Barcelona für abgesetzt.
Eisige Ablehnung
Und die EU? Immerhin herrschte in einem Mitgliedsland eine schwere Verfassungskrise. Die spanische Polizei war am Wahltag mit Gewalt gegen Teilnehmer des Referendums vorgegangen. Bitter beklagte sich Puigdemont: "Warum wird in der EU das Polizeivorgehen nicht schärfer kritisiert?" Beim Referendum seien grundlegende Freiheitsrechte europäischer Bürger verletzt worden. "Aber von der EU kommt nichts. Wenn das Gleiche in der Türkei, Polen oder Ungarn passiert, ist die Empörung dagegen riesig."
Er hätte es wissen können. Noch vor dem Referendum hatten EU-Vertreter durchblicken lassen, dass sich ein unabhängiges Katalonien neu um eine EU-Mitgliedschaft hätte bewerben müssen. Und da für die Aufnahme Einstimmigkeit erforderlich ist und mindestens Madrid seine Zustimmung verweigert hätte, würde es ein EU-Mitglied Katalonien nicht geben. Als sich der Konflikt zuspitzte, lehnte die EU sogar eine Vermittlungsrolle ab, da es sich um eine innere Angelegenheit Spaniens handele.
Nach der Unabhängigkeitserklärung schlug Puigdemont dann erst recht eisige Ablehnung entgegen, sowohl von der Kommission wie aus den Mitgliedsstaaten. Mit Blick auf mögliche Nachahmer sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: "Ich möchte nicht, dass die Europäische Union morgen aus 95 Mitgliedsstaaten besteht." Ratspräsident Donald Tusk twitterte: "Spanien bleibt unser einziger Gesprächspartner." Der deutsche CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok warf den Separatisten in einem Zeitungsinterview zudem unlautere Motive vor: "Dem reichen Barcelona geht es nur darum, die Solidarität mit anderen spanischen Regionen aufzukündigen."
Vorwurf der Doppelmoral
Verständnis kam, wenn überhaupt, nur aus anderen Regionen, in denen es ebenfalls Abspaltungstendenzen gibt, so in Puigdemonts belgischem Exil. Die Neue Flämische Allianz, die an der belgischen Zentralregierung beteiligt ist, bekundete Unterstützung. Wie Katalonien sieht sie Flandern als wirtschaftlichen Motor, der für ärmere Landesteile zahlen soll, dem aber die politische Selbstbestimmung verwehrt wird. Flämische Politiker verglichen die spanische Regierung sogar mit der Franco-Diktatur. Doch diese Spaltungen sind genau das, was die Regierungen der Nationalstaaten nicht wollen.
Dabei sieht die EU Abspaltungen nicht grundsätzlich negativ. Das beste Beispiel ist Schottland - allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die britische Regierung ein Unabhängigkeitsreferendum 2014 zuließ. Die schottischen Nationalisten verloren relativ knapp. Doch als die Briten 2016 hauchdünn für einen Brexit stimmten, die Schotten dagegen mit deutlicher Mehrheit für einen Verbleib in der EU, sah die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von der Schottischen Nationalpartei die Stunde für einen neuen Versuch gekommen. Derselbe Kommissionspräsident Juncker, der angesichts der Katalonienkrise keine "95 Mitgliedsstaaten" haben will, empfing damals Sturgeon in Brüssel wie eine Heldin und machte ihr Hoffnungen, dass ein unabhängiges Schottland EU-Mitglied werden könne. Es war die ideale Gelegenheit, den Brexit-Befürwortern eins auszuwischen.
Eine Doppelmoral in der EU sieht auch die serbische Regierung. Serbien ist EU-Beitrittskandidat, soll aber erst Mitglied werden können, wenn es gutnachbarliche Beziehungen zur 2008 abgefallenen Provinz Kosovo pflegt und damit auch deren Unabhängigkeit akzeptiert. Bezeichnenderweise hat unter anderem Spanien das Kosovo mit Blick auf Katalonien nie anerkannt. "Wenn Spanien für sein Katalonien-Konzept kämpfen kann, dann können wir Serben auch für unser Land kämpfen", sagt inzwischen der serbische Außenminister Ivica Dacic und macht damit deutlich, dass Serbien das Kosovo weiterhin zurückhaben will. Ob Unabhängigkeit in Brüssel akzeptabel ist oder nicht, hängt offenbar auch davon ab, wer sie fordert und wer sie verhindern will.
Besser auf dem Verhandlungsweg
Doch noch etwas hat die Katalonien-Krise gezeigt: Diejenigen Regionen in Europa, die mehr Selbständigkeit von ihren Nationalstaaten wollen, fühlen sich von Puigdemonts handstreichartigem Vorgehen verraten. Lorant Vincze, der Vorsitzende der "Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen", hält die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kataloniens für "nicht sehr hilfreich" für die Bemühungen um mehr regionale Autonomie, weil dadurch bei den Regierungen der Nationalstaaten "die roten Lichter angehen". Luis Durnwalder, der frühere Landeshauptmann von Südtirol, das innerhalb Italiens einen Autonomiestatus genießt, hat diese Erfahrung parat: "Wir haben auch 50 Jahre gebraucht, bis wir zu dem gekommen sind, was wir heute haben. Wir können sagen, dass wir eine ziemlich gute Autonomie haben, und die Katalanen hätten das auch vielleicht erreichen können, wenn sie nicht den Stab dabei total gebrochen hätten." Verhandlungen und Geduld, meint er, zahlten sich aus.