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Politik

Katalanische Passionen

9. Oktober 2017

Auf Loslösung von Spanien drängende Katalanen gehen dieser Tage massenhaft auf die Straße. Dort stehen aber auch die, die lieber bei Spanien bleiben. Der katalanische Nationalismus ist seit jeher ein strittiges Projekt.

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Spanien Mario Vargas Llosa - 'Für die Einheit'-Kundgebung in Barcelona
Hütet euch vor politischen Passionen: Mario Vargas Llosa in BarcelonaBild: Reuters/G. Fuentes

Nichts gegen Passionen, aber man sollte sie kontrollieren. Lässt man ihnen freien Lauf, führen sie den Menschen leicht in die Irre. Das gilt auch für politische Passionen, und ganz besonders für nationalistische. Wer sich ihnen hingibt, landet im Abseits. Vorsicht also, warnte am Wochenende der peruanisch-spanische Autor Mario Vargas Llosa seine Zuhörer auf einer Demonstration gegen das katalanische Unabhängigkeitsbegehren: "Passionen können zerstörerisch sein, wenn sie von Fanatismus und Rassismus angetrieben werden. Die schlimmste aller Passionen ist die nationalistische", rief er in die Menge.

Passionen von links, Passionen von rechts. Auf dem Gebiet des heutigen Kataloniens, schreibt der spanische Publizist Guillém Martínez, hätten einst Vulkane gebrodelt, seien Meereswasser hin und her geschwappt, Dinosaurier über die Erde gedonnert. Eine bewegte Vergangenheit also, und obwohl Martínez sie nicht ausschließlich auf katalanisches Territorium begrenzen will, würdigt er sie in seinem Buch "La gran ilusión. Mito y realidad del proceso indepe" ("Die große Illusion. Mythos und Wirklichkeit des Unabhängigkeitsprozesses") doch als angemessenes Vorspiel der heutigen Erregungen. Das Ringen zwischen Wasser und Erde, die Feindschaft zwischen Dinosauriern und anderen Urtieren: War das nicht ein würdiges Vorspiel des gegenwärtigen Ringens um die Hoheitsansprüche über den Zipfel Land im spanischen Nordosten?

Proteste in Madrid gegen der Unabhängigkeit der Katalonien
Je mehr Teilnehmer, desto besser: Demonstration für den Verbleib bei SpanienBild: DW/V.Tscheretskiy

Das falsche Pferd 

Umkämpft war dieses Land seit jeher. An jedem 11. September, ihrem Nationalfeiertag, gedenken die Katalanen einer zum Schlüsseldatum der Region erhobenen Schlacht: 1714, gegen Ende des spanischen Erbfolgekrieges, eroberten die Truppen des siegreichen Bourbonen Philipp V. Barcelona und sein Umfeld. Sie hatten, mussten die Katalanen bemerken, auf das falsche Pferd gesetzt, nämlich den Habsburger Thronprätendenten Karl III. Weil im Heer Philipps V. aber auch Spanier mitkämpften, deuteten einige spätere Historiker den Tag in eine Niederlage gegen Spanien um. 

Die Sitte, an jenem Tag Kränze niederzulegen, beschränkte sich zunächst auf einige Trauergottesdienste für die Toten. Als 1888 aber ein Denkmal für die Gefallenen errichtet wurde, gewann die Sache an Fahrt: In den folgenden Jahren legten patriotisch gesinnte Katalanen Blumen vor das Denkmal, im frühen 20. Jahrhundert gewann der Gedenktag einen explizit politischen Charakter. 

Von Versen und Blumen

Zu jener Zeit hatten die patriotischen Passionen sich längst geregt. 1859 hatten in Liebe zur Heimat entbrannte Katalanen die sogenannten Jocs Florals, "Blumenspiele", begründet, in denen die Söhne - später auch die Töchter - der Region in poetischem Wettstreit die Vorzüge der Region besangen. Dieses oft nicht ohne dramatischen Unterton, den zur Eröffnung des Wettbewerbs von 1861 Lluís G. de Pons, einer seiner Initiatoren, vorgegeben hatte. "No diexis morir la lengua si vols que visca la patria": "Lasst nicht zu, dass die Sprache stirbt, wenn ihr wollt, dass das Vaterland in Blüte steht."

Jacint Verdaguer, katalanischer Dichter | Gemälde von Jose Maria Tamburini Dalmau
Oh schönes Barcelona! Der spanische Dichter Jacint Verdaguer, hier auf einem Gemälde von José Maria Tamburini DalmauBild: picture-alliance/Prisma Archivo

Der hohe Ton des besorgten Patriotismus war vorgegeben, und mit ihm der folkloristische und darum massentaugliche Patriotismus. Ihm gab etwa Jacint Verdaguer, Jahrgang 1845, Form. So etwa in seinem Gedicht "Atlàntida" ("Atlantis"). Aus eben diesem mythischen Superreich sei auch Barcelona hervorgegangen, versicherte er, nicht ohne dichterische Freiheit, in seinen Versen: "Oh schönes Barcelona, dein Gesetz / Bezwang den Ozean in seiner Macht".

Anarchisten in Barcelona

Freilich entwickelte der katalanische Patriotismus / Nationalismus neben der konservativ-bürgerlichen alsbald auch eine progressiv-linke Variante. Zu ihr trug die landesweite Revolution von 1868 bei. Sie richtete sich gegen die spanische Königin Isabella II., die nach dem Geschmack ihrer Untertanen den Menschen allzu wenige Freiheiten ließ. Der russische Anarchistenführer Michael A. Bakunin  beobachtete die Revolution aus der Ferne. Bald schickte er einen seiner Vertrauten, den Italiener Giuseppe Fanelli, nach Spanien, um den eigentlich bürgerlichen Aufstand in einen der Arbeiter umzuformen. Nicht ohne Erfolg: Barcelona wurde zu einem Zentrum des Anarchismus, eine Reihe von Attentaten prägte bis ins 20. Jahrhundert den politischen Alltag. 

Spanien Francisco Franco
Grausam, gläubig, spanisch: Diktator Francisco FrancoBild: picture alliance/AP Photo

Nicht zuletzt aus diesen Kreisen speiste sich auch der Widerstand gegen General Franco, der im Juli 1936 einen Staatsstreich gegen die spanische Demokratie führte, das Land in einen Bürgerkrieg stürzte und auf dessen Trümmern eine bis zu seinem Tod 1975 dauernde Diktatur errichtete. "Was ist Spanien? Eine Sprache, das Kastilische, und eine Religion, der Katholizismus". So umreißt der Publizist Guillém Martínez das ideologische Programm des Diktators, das keine Abweichungen duldete - auch die der Katalanen nicht, deren Sprache in den folgenden Jahrzehnten rigoros unterdrückt wurde.

Der große Diktator

Auch mit ihrer Leidensgeschichte unter Franco gründeten und gründen die nationalistisch gesonnenen Katalanen bis heute ihren Wunsch nach Unabhängigkeit. Damit punkten sie auch bei Teilen der spanischen Linken, die im katalanischen Unabhängigkeitsringen auch ein politisches - gerne auch: "emanzipatorisches" - Projekt sehen. Allerdings vergessen beide, katalanische Nationalisten und spanische Linke, dass Franco-Gegner nicht nur in und um Barcelona, sondern im gesamten Land unter der mörderischen Herrschaft des Diktators zu leiden hatten.

Es gelinge ihr nicht, schrieb vor einigen Tagen die Schriftstellerin Almudena Grandes in der Tageszeitung El País, die innere Widersprüchlichkeit der linken Sympathisanten der Unabhängigkeitsbewegung aufzulösen: "Die spanischen Progressiven weisen ihr eigenes Vaterland zurück, nehmen aber den Patriotismus der (katalanischen, Anm. d. Red.) Nationalisten, Konservativen und Kleriker als ihren eigenen an - in einem Spagat, der in ideologischer Hinsicht ebenso unverständlich ist wie in emotionaler."

Dichtung und Wirklichkeit. Noch ist offen, ob die politische und mehr noch die ökonomische Realität die patriotischen Passionen am Ende einholen. Erste Stimmen deuten bereits Zweifel an den Fähigkeiten des katalanischen Präsidenten und Führers der Unabhängigkeitsbewegung, Carles Puigdemont, an. Der katalanische Nationalismus erlebt derzeit Stunden und Tage der Bewährung.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika