Karsais Chancen in Afghanistan
7. Dezember 2004Hamid Karsai legt als erster demokratisch gewählter Präsident Afghanistans den Amtseid ab. Der aus der Präsidentschaftswahl am 9. Oktober mit 55 Prozent der abgegebenen Stimmen erfolgreich hervorgegangene Karsai hat einen steinigen Weg hinter sich. Direkt nach der Einsetzung seiner provisorischen Regierung im Dezember 2001 sah er sich mit einer Reihe schier unüberwindlicher Aufgaben konfrontiert.
Zum einen war die aus dem langjährigen Bürgerkrieg herrührende Kalaschnikow-Mentalität zu überwinden. Es galt, die außerhalb der Hauptstadt weiterhin mächtigen Warlords in Schach zu halten und die Überreste der militanten Taliban-Milizen zu bekämpfen. Zum anderen musste der Weg für den Wirtschafts- und Sozialaufbau geebnet werden - wahrlich eine Herkulesaufgabe, die die geringen eigenen Kräfte des Landes bei weitem überforderte.
Viele Leben
Karsai hat mehrere politisch motivierte Attentatsversuche überlebt, drei seiner Kabinettsmitglieder sind jedoch unter mysteriösen und immer noch nicht geklärten Umständen bei Anschlägen ums Leben gekommen.
Karsai hat den im Dezember 2001 bei Bonn ausgehandelten Petersberg-Fahrplan zwischen den selbst ernannten Vertretern der Volksgruppen und politischen Gruppierungen so konsequent wie möglich eingehalten. Dafür erhielt er vom Volk eindeutig den Auftrag, die Geschicke des Landes für die nächste sechsjährige Legislatur-Periode in die Hand zu nehmen.
Ethnische Kluft
Dennoch werden die Fortsetzung des Friedensprozesses und damit die Zukunft des Landes nicht reibungslos ablaufen. Die Präsidentschaftswahl hat die ethnische Polarisierung des Landes eindeutig bestätigt. Der Paschtune Karsai gewann die Wahl vor allem in den paschtunischen Siedlungsgebieten im Süden und Osten des Landes, wo er zum Teil bis zu 80 Prozent der Stimmen holte. Dagegen kam Karsai in den Regionen, wo Tadschiken, Usbeken, Hasaras und andere Minderheiten des Vielvölkerstaates Afghanistan ansässig sind, auf deutlich unter zehn Prozent der abgegebenen Stimmen. Und im von Tadschiken dominierten Pandschschir-Tal des legendären Kommandeurs Ahmad Schah Masud konnte er gar nur ganze 0,8 Prozent der abgegebenen Stimmen gewinnen.
Vor allem in vielen ländlichen Gebieten wurde strikt nach ethnischer Zugehörigkeit und weniger nach politischen Präferenzen gewählt. Nach dem afghanischen Verständnis von Politik muss Karsai ein ethnisch ausgewogenes Kabinett zusammenbasteln. Andernfalls wird er das ihm von seinen Widersachern schon jetzt verpasste Image nicht loswerden, allein der Präsident der Paschtunen in Kabul zu sein.
Tribut an den Islam
Der ethnische Proporz ist aber nur ein Problem, das Karsai lösen muss. Dazu kommt die Behandlung der politischen und religiösen Gegenströmungen im Lande. Im Wahlkampf hatte Karsai Zugeständnisse an die Adresse konservativer und islamisch orientierter Kräfte gemacht. Damit verprellte er allerdings die westlich orientierten Kräfte. Bei den im April 2005 anstehenden Parlaments-, Provinz- und Bezirkswahlen werden die konservativen und religiös orientierten Kräfte Karsai, der sich auf keine eigene Partei stützen kann, an seine Zusagen erinnern.
In den vergangenen drei Jahren seiner provisorischen Regierung hat Karsai ohne parlamentarische Kontrolle und oft eigenmächtig regiert. Künftig aber muss er, trotz seiner starken Position im präsidialen Regierungssystem des Landes, seine Politik vor gewählten Abgeordneten verantworten, was seinen politischen Spielraum einengen wird. Er ist aber gewohnt, zwischen politischen Gruppierungen, ethnischen Fronten und religiös orientierten Kräften zu lavieren.
Hilfe unabdingbar
Karsai hatte im Wahlkampf kein detailliertes Programm vorgelegt. Er hat vielmehr die Fortsetzung der Aufbauarbeit seiner provisorischen Regierung angekündigt. Hierbei betonte er stets, dass er gegen regionale Kriegsherren und Drogen mit aller Entschiedenheit kämpfen werde.
Der Erfolg seiner künftigen Politik wird auch weiterhin vom guten Willen der Nachbarstaaten abhängig sein. Von noch größerer Bedeutung ist jedoch, ob der Westen im allgemeinen und die USA im besonderen den Friedensprozess am Hindukusch nachhaltig und umfassend unterstützen werden. Ein Nachlassen des westlichen Engagements würde auf jeden Fall die Stabilisierungsbemühungen der vergangenen Jahre zunichte machen.
Karsai schien zunächst unsicher und zurückhaltend, entwickelte jedoch rasch politisches Machtbewusstsein und taktisches Geschick. In seiner zweiten Amtszeit wird es darauf ankommen, dass er allen Bewohnern des Vielvölkerstaates eine glaubwürdige Perspektive in einer demokratisch verfassten Zukunft vermitteln kann.