Das Schweigen zu 100 Jahren Oktoberrevolution
Der 7. November, der Jahrestag der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution", war einmal der wichtigste Feiertag im sowjetischen Festtagskalender - noch vor dem 1. Mai, auch noch vor dem Tage des Sieges am 9. Mai. Paraden, Chöre, Feuerwerk. Jetzt, zum 100. Jubiläum will Festtagsstimmung nicht aufkommen. Während in vielen Ländern immerhin Ausstellungen und Konferenzen zum "Jahrhundertereignis" stattfinden, herrschen heute auf den Originalschauplätzen in Russland eher Ratlosigkeit und Desinteresse. Die Idee, auf dem Schlossplatz in Sankt Petersburg den "Sturm auf das Winterpalais" noch einmal zu inszenieren, wurde abgelehnt.
Jede Zeit hatte ihre eigene Sicht
Man fragt sich, was dieses Schweigen zu einem Ereignis, das fast 100 Jahre lang als Gründungsakt der Sowjetunion und weltgeschichtlicher Einschnitt gefeiert wurde, zu bedeuten hat. Und weshalb an die Stelle des Revolutionsgedenkens seit 2005 ein neuer Feiertag gesetzt wurde: der "Tag der Volkseinheit" am 4. November, der an die Vertreibung der Polen aus Moskau im Jahre 1612 und damit an das Ende der "Zeit der Wirren" und den Beginn der Herrschaft der Romanow-Dynastie erinnern soll.
Der Blick auf die Jahrestage zeigt, dass jede Zeit ihre eigene Sicht auf den "Roten Oktober" hatte. 1927, zum 10. Jahrestag, produzierte Sergej Eisenstein die Bilder vom Sturm auf das Winterpalais, der bekanntlich so nie stattgefunden hatte, und einer der Helden des Oktober - Leo Trotzki - fiel bereits den Retuschen zum Opfer. 1937 fielen die Feiern zusammen mit dem von Stalin entfesselten "Großen Terror", in dem auch prominente Köpfe der "Alten Garde" der Revolutionäre umgebracht wurden. Legendär wurde die Parade zum Jahrestag auf dem Roten Platz 1941, weil sie demonstrierte, dass Moskau dem Angriff der Deutschen standhalten würde. 1957 - nach dem 20. Parteitag, der den Personenkult Stalins verurteilt hatte - war schon nicht mehr die Rede von der angeblich führenden Rolle Stalins im Oktober, sondern von der Rückkehr zum "wahren Leninismus". Zum 50. Jahrestag 1967 fand sich zahlreiche Prominenz vor allem aus den Ländern der Dritten Welt ein.
Von da an wurde der Jahrestag immer mehr zu einem arbeitsfreien Feiertag mit Volksfestcharakter, jenseits der großen Politik. Und 1987 - nach dem Beginn von Glasnost und Perestroika - nahm die Diskussion um eine radikale Neubewertung der Russischen Revolution und ihrer Folgen Fahrt auf: Bisher tabuisierte Personen wie Nikolaj Bucharin tauchten wieder auf, Schriften, die Jahrzehnte lang verboten gewesen waren, wurden in Massenauflagen gedruckt.
In den 1990er-Jahren erlosch dann das Interesse an dem Feiertag, der nun fast nur noch von Mitgliedern der geschrumpften Kommunistischen Partei begangen wurde. Man war offensichtlich mehr mit der Bewältigung der Alltagsprobleme der nachsowjetischen Gesellschaft beschäftigt als mit den "Ideen des Oktober".
Putins Lehre aus dem Scheitern des Zarenreiches
Und heute? Eigentlich legen wachsende soziale Ungleichheit, Gewalt und zunehmende Instabilität - auch weltweit - nahe, über die Gründe für diese Spannungen und über fällige Reformen nachzudenken. Die Beschwörung der Einheit gegen den äußeren Feind und seine Agenten im Lande hatte das Zarenreich, das unter der Last des Ersten Weltkrieges zusammenbrach, nicht retten können. Und genau dies bietet auch dem nachsowjetischen Russland von heute keine Perspektive. Alle wissen, dass die Hindernisse für Modernisierung des Landes im Inneren liegen. Die Wiederherstellung des Imperiums 1922 in Gestalt der UdSSR hat Russland noch einmal die Last des Vielvölkerreichs aufgebürdet und seine Entwicklung zu einer Nation moderner und selbstbewusster Staatsbürger für Jahrzehnte blockiert. Putins Politik hat aus dem Scheitern des Zarenreiches nur eines gelernt: Angst vor Veränderung und Aufrechterhaltung der Ordnung um fast jeden Preis. Aber das ist zu wenig in Zeiten, in denen die Modernisierung des Landes nur mit den Bürgern und nicht ohne oder gegen sie und die dafür nötigen Institutionen erfolgen kann.
Karl Schlögel, Jahrgang 1948, ist Osteuropahistoriker und Publizist, mit den Arbeitsschwerpunkten Geschichte der russischen Moderne und des Stalinismus. Bis zu seiner Emeritierung 2013 war er Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. In diesem Jahr veröffentlichte er das Buch "Das sowjetische Jahrhundert - Archäologie einer untergegangenen Welt".