100 Jahre Russische Revolution
23. Februar 2017Hungrige und unzufriedene Arbeiterinnen ziehen demonstrierend durch die Straßen in Petrograd. Es ist der Internationale Tag der Frau, der 23. Februar 1917, der Beginn der Februarrevolution. Die Demonstrationen weiten sich zu Straßenkämpfen, einem Aufstand, aus. Die Bevölkerung leidet unter den Entbehrungen, die der dritte Winter des Ersten Weltkrieges mit sich bringt: Holz, Kohle und Lebensmittel werden knapp, die Preise für Weizen, Salz, Zucker und Butter sind drastisch gestiegen. Schließlich dankt Zar Nikolaus II. ab. Da auch sein Bruder Michail nicht den Thron übernehmen will, enden so über 300 Jahre autokratischer Herrschaft der Romanow-Dynastie.
Eine provisorische bürgerliche Regierung übernimmt daraufhin die Macht. Doch Arbeiter- und Soldatenräte, sogenannte Sowjets, machen der Regierung das Regiment streitig. Eine instabile Doppelherrschaft entsteht. Die Bolschewiki um Wladimir Iljitsch Lenin und Leo Trotzki nutzen das politische Vakuum und putschen sich am 25. Oktober (nach dem julianischen Kalender, der damals galt) an die Macht, was als Oktoberrevolution in die Geschichtsbücher eingehen wird.Wie die Jahrestage der Revolutionen offiziell in Russland begangen werden, darüber hält sich die Regierung bedeckt. Dafür gibt es umso mehr Museen, die die Revolutionen thematisieren: So hat in London in der Royal Academy of Arts beispielsweise eine Ausstellung über die revolutionäre Kunst jener Zeit eröffnet und am 24. Februar zieht das Schweizerische Nationalmuseum mit einer Ausstellung nach. Die Plakatausstellung "Der Kommunismus in seinem Zeitalter" der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur kann direkt nach Hause bestellt werden.
DW: Herr Scriba, auch Sie planen mit dem Deutschen Historischen Museum in Berlin für Oktober eine Ausstellung mit dem Titel "1917. Revolution. Russland und Europa". Warum muss man an die Russischen Revolutionen jetzt noch mit so vielen Ausstellungen erinnern?
Arnulf Scriba: Die Russischen Revolutionen führten zu einem Systemwechsel, der das gesamte 20. Jahrhundert geprägt hat. Das kam nicht nur einer Zäsur für Russland und damit auch den anliegenden Regionen gleich, sondern diese tiefgreifenden Umwälzungen haben auch die zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa enorm geprägt. Nicht nur in den 20er Jahren, sondern weit darüber hinaus. Es gab Anfang der 20er, beziehungsweise kurz davor, keinen Staat in Europa, der nicht auf die ein oder andere Weise auf diese Revolutionen reagiert hat.
Haben Sie Beispiele?
Zum Beispiel in Ungarn, einem neuen Nationalstaat, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 gegründet worden ist, wurde die Revolutionsidee übertragen. Das war ein Staat, in dem tatsächlich für kurze Zeit, 1919, eine Räterepublik nach sowjetrussischem Vorbild installiert worden ist. Umso heftiger war aber auch die Gegenreaktion von bürgerlich-konservativen Kräften, die dann die Räterepublik, wenn man das so nennen möchte, bekämpft haben.
In Deutschland beispielsweise hat auch eine revolutionäre Idee Fuß gefasst. Die Arbeiterbewegung hat sich gespalten: in einen sehr moderaten Teil der Arbeiterbewegung, sprich die Sozialdemokraten, die sehr stark auf die parlamentarische Demokratie abgezielt haben, und einen Teil, der die Idee einer Räterepublik verwirklichen wollte. Das beste Symbol dafür war die doppelte Ausrufung der Republik am 9. November 1918 durch einerseits Philipp Scheidemann, der die Deutsche Republik, also sprich eine parlamentarische Demokratie, ausgerufen hat, und Karl Liebknecht, der nur ein paar Stunden danach die Räterepublik proklamiert hat.
In Großbritannien hat die Idee der Bolschewiki gar nicht Fuß fassen können, weil sich die Arbeiterbewegung nicht hat spalten lassen. Die Arbeiter sind dort weiterhin der Labour Party gefolgt, die fest im parlamentarischen System Großbritanniens verankert war.
Wie kam es zu den Revolutionen im Russischen Reich 1917?
Das autokratische System unter der Zarendynastie der Romanows hat sich mehr und mehr von der Bevölkerung entfernt. Diese war unfähig, dringende Reformen einzuführen. So ist immer mehr Druck in der Gesellschaft entstanden. Kurzfristig konnten die gesellschaftlichen Spaltungen durch den Beginn des Ersten Weltkrieges übertüncht werden, weil man als ein Russland in den Krieg gezogen ist. Dann traten die gesellschaftlichen Risse aber im Verlaufe des Krieges umso stärker hervor, was letztlich der Motor und der Katalysator dieser Revolution war. Die epochalen Auswirkungen dieser Revolution waren, dass ein ganz neuer Staat entstanden ist, die Sowjetunion. Vergleichbares hat es vorher nicht gegeben.
Auch der Revolutionsbegriff wurde von den Bolschewiki bei der Oktoberrevolution völlig neu besetzt und war ein ganz anderer: Die Deutsche Revolution von 1848/49, oder auch die Französische Revolution, hatten zum Ziel und zur Grundlage, die Rechte der Bürger gegenüber dem Staat zu stärken. Bei der Russischen Revolution haben wir etwas vollkommen anderes: Die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat waren für die Bolschewiki überhaupt nicht zentraler Bestandteil ihrer Politik. Ganz im Gegenteil: Der Einzelne sollte untergehen in der Masse. Es war die Diktatur, wie es immer geheißen hat, der Bauern und des Proletariats, eine Kollektivierung. Es sollte etwas ganz Neues entstehen.
Was haben die Revolutionen bewirkt?
Mit der Februar- und der Oktoberrevolution haben ganz viele gesellschaftliche Gruppierungen ganz unterschiedliche Ziele verbunden. Die Bauern hatten ganz andere Ziele auf dem Land als beispielsweise die städtische Bevölkerung. Das Bürgertum hatte ganz andere Ziele als die Fabrikarbeiter.
Gerade die Intelligenzija in Russland, aber eben auch in Europa, hat zum Teil die Russische Revolution als etwas Neues wahrgenommen. Nach dem Ende der Romanow-Dynastie und der Autokratie war jetzt Platz für neue Ideen und im wahrsten Sinne des Wortes revolutionäre Kunst. Mann konnte nun frei von Zensur und frei von einem vorgegebenen Kunstgeschmack Neues ausprobieren in der bildenden Kunst, aber auch vor allem in der Architektur.
Was passierte mit der Euphorie der Kulturschaffenden, die die Revolution ausgelöst hatte?
Es gab eine ganz, ganz kurze Zeit der Aufbruchstimmung bei Künstlern, bei Intellektuellen. Es sind sogar Künstler, Intellektuelle, Schriftsteller, aber auch ganz einfache Leute, wie Arbeiter, in die Sowjetunion gegangen, um die Aufbruchstimmung mitzuerleben und sich dort in der Sowjetunion auch selbst zu verwirklichen. Es gab eine starke Migrationsbewegung. Auch die Musik spielte eine Rolle: Man hört an den Stücken aus dieser Zeit, dass da eine ganz andere Musik Einzug gehalten hat. Auch das werden wir in unserer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum hörbar machen.
Aber die Vorstellung von Utopie und Freiheit, die mit der Revolution einherging, ist relativ schnell bei vielen Künstlern in Ernüchterung umgeschlagen, weil die Bolschewiki und die Kommunistische Partei den Sozialistischen Realismus zur Doktrin gemacht haben. Dieser hat die Kunst in den Dienst der Propaganda gestellt und den sozialistischen Arbeiter statt moderner Abstraktionen abgebildet.
Einerseits kam also eine Euphorie mit der Russischen Revolution auf. Andererseits ging diese Aufbruchstimmung auch mit Terror und der Gewalt der Bolschewiki einher, die ihre Macht durchsetzen und auch behalten wollten. Vision und Gewalt, Utopie und Terror gingen Hand in Hand. Und das hat dann auch das Bild der Revolution in Westeuropa geprägt und den Kommunismus zu einem Schreckgespenst werden lassen.
Dr. Arnulf Scriba ist Projektleiter der der Ausstellung "1917. Revolution. Russland und Europa", die vom 20. Oktober 2017 bis zum 15. April 2018 im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen ist. Die Schau ist ein Kooperationsprojekt mit dem Schweizerischen Nationalmuseum, das vom 24. Februar bis 25. Juni 2017 in Zürich "1917 Revolution. Russland und die Schweiz" zeigt.
Das Gespräch führte Laura Döing.