Kanadas Vielfalt auf der Frankfurter Buchmesse
20. Oktober 2021Die Frankfurter Buchmesse ist wieder da: Nach der coronabedingten Zwangspause findet der größte Buchmarkt der Welt unter dem Motto: "Re:connect" vom 20. bis 24. Oktober wieder in Präsenz statt. Das Ehrengastland Kanada nutzt im zweiten Anlauf die literarische Bühne, um seine kulturelle Vielfalt zu präsentieren. Die Generalgouverneurin von Kanada, Mary May Simon, die erste Inuk in diesem Amt, lud bei der Eröffnungsfeier am Dienstagabend dazu ein, sich auch mit indigenen Geschichtenerzählerinnen und -erzählern aus Kanada zu beschäftigen.
Die kanadische Inuit-Sopranistin Deantha Edmunds trat vor den Eröffnungsgästen in der Frankfurter Festhalle auf. Kanadas Star-Autorin Margaret Atwood wurde live zugeschaltet. Außer ihr sprach auch Josephine Bacon, eine kanadische Dichterin und Filmemacherin, die auf Französisch und Innu-aimun schreibt.
"Einheit in Vielfalt" - tatsächlich spiegelt sich dieses Motto in der multikulturellen Literatur des nordamerikanischen Landes wider. Bücher der englischen, französischen und indigenen Literatur bilden die drei wichtigsten kulturellen Säulen Kanadas. Hinzu kommt eine neue Generation von Schreibenden, wie etwa Vivek Shraya, eine preisgekrönte Transgender-Autorin, die auch als Musikerin, Filmemacherin und bildende Künstlerin tätig ist.
Shraya, ebenfalls Gast der Eröffnungsfeier, ist Verfechterin von LGBTQ+-Rechten. Sie sitzt im Vorstand der Tegan and Sara Stiftung und hat den Verlag VS. Books gegründet, der sich für LGBTQ+-Belange in der Buchbranche engagiert.
Indigene und migrantische Literatur im Rampenlicht
Insgesamt 58 kanadische Autorinnen und Autoren nehmen live oder virtuell an den Buchmesse-Veranstaltungen der nächsten Tage teil. Darunter sind französischsprachige Autoren wie der aus Haiti stammende Dany Laferrière oder auch Kim Thuy, die im Alter von zehn Jahren aus Vietnam floh. Beide sind mit sehr persönlichen Geschichten über ihre Migrationserfahrungen bekannt geworden.
Der Innu-Autor Michel Jean, Jahrgang 1960, stellt in Frankfurt sein Buch "Kukum" (2019), vor, eine Hommage an seine Urgroßmutter. Der Roman war im französischsprachigen Teil von Kanada ein Bestseller und ist pünktlich zur Buchmesse auf Deutsch erschienen. Nach Frankfurt gereist ist auch Paul Seesequasis, Gründer des Magazins Aboriginal Voices (Stimmen der Ureinwohner) und eines Social-Media-Projekts, das Bilder der kanadischen Indigenen veröffentlicht.
Literatur kämpft für Minderheiten
Eine weitere Autorin, die für die offizielle kanadische Delegation ausgewählt wurde, ist Catherine Hernandez. Auf ihrer Website beschreibt sie sich als "stolze People-of-Colour-Frau" mit philippinischen, spanischen, chinesischen und indianischen Wurzeln. Hernandez' neuester Roman "Crosshairs" (Fadenkreuze, 2020) ist eine Dystopie, die in der nahen Zukunft spielt. Sie erzählt von einem Lager, in dem Menschen mit Behinderung, LGBTQ+ und andere Menschen inhaftiert sind.
Nach Hernandez‘ Beobachtung seien die Verlage heute schon offener gegenüber Schreibenden, die Minderheiten angehören. Doch herrsche "ein ständiger Kampf" um die Vielfalt in der kanadischen Literatur, sagte die Schriftstellerin der Deutschen Welle. Geschichten von Autorinnen und Autoren aus unterrepräsentierten Gruppen sollten "für ihren wahren Wert gefeiert werden", so Hernandez, "nicht nur, weil jeder versucht, alle richtigen Kästchen anzukreuzen, sondern weil diese Geschichten wichtig sind; wichtig auch für Menschen aus der Mainstream-Welt".
Kanadas Verlage breit aufgestellt
Mittlerweile arbeiten auch Kanadas Verleger daran, die Vielfalt in der Buchbranche zu mehr als einem Marketing-Slogan zu machen. "Wir sind noch lange nicht da, wo wir hin wollen", sagt etwa David Caron, Mitherausgeber von ECW Press. Erst kürzlich diskutierte er über das Thema bei einem vom kanadischen Verlegerverband "Association of Canadian Publishers" organisierten Runden Tisch. "Die große Mehrheit meiner Kollegen teilt diese Meinung", so Caron auf DW-Anfrage, "uns ist wichtig, dass unterrepräsentierte Stimmen veröffentlicht werden." Das wachsende Bewusstsein für systemische Ungerechtigkeit sei inzwischen ein landesweites Thema.
Auswirkungen der "Black-Lives-Matter"-Bewegung
Nicht nur die Ermordung George Floyds durch einen US-Polizisten und die "Black-Lives-Matter"-Bewegung haben in Kanada nachhaltig Eindruck hinterlassen. Auch die Folgen des europäischen Kolonialismus wurden schon früher als anderswo aufgearbeitet. So förderte eine Wahrheits- und Versöhnungskommission einen kulturellen Völkermord zutage: In Internaten der katholischen Kirche wurden Kinder indigener Familien eingesperrt, misshandelt und auch ihrer Sprache beraubt. "Das hat in der kanadischen Verlagsbranche zu einem Umdenken geführt - und zu der Frage, was zur Unterstützung indigener Stimmen zu tun ist", so der Publizist Caron.
Aufbauend auf dem Konzept des Multikulturalismus
In Kanada gilt seit den 1960er und 1970er Jahren der Multikulturalismus als politisches Leitkonzept. Schon Premierminister Pierre Elliott Trudeau, der Vater des derzeitigen Premierministers Justin Trudeau, hatte sich dafür stark gemacht. In einer Rede erklärte er 1971: "Nichts wäre für Kanada verhängnisvoller, als den Kanadiern zu sagen, dass sie alle gleich sein müssen. Es gibt nicht den einen Kanadier", unterstrich er. "Eine Gesellschaft, die auf Uniformität setzt, schafft Intoleranz und Hass."
Zwar gehöre er einer Generation an, die mit diesem Ideal der Vielfalt aufgewachsen sei, sagt Verleger David Caron im DW-Gespräch, "aber ich bin immer noch ein Produkt der systemischen Vorurteile, die in unserem Land und in unserer Branche herrschen". Trotz aller Fortschritte sei Kanada "an einem Punkt, an dem wir noch einen langen Weg vor uns haben".