Kampf um Kobane: Taktisch "unbarmherzig"
10. Oktober 2014Jeden Tag bringt die kurdische Nachrichtenagentur Firatnews Meldungen von den Kämpfen um Kobane. Am Freitagmorgen fiel der Frontbericht recht knapp aus: Im Osten und Süden von Kobane hätten die IS-Milizen ihre Angriffe auf die Stadt verstärkt; sieben Angriffswellen hätten die kurdischen YPG-Kämpfer abgewehrt. Bereits am Mittwoch seien im Westen der Stadt 24 Angreifer bei Gefechten um einen Bauernhof getötet worden, aber nur "vier unserer Kameraden eines Vortrupps haben ihr Leben verloren", so Firatnews.
Die Agentur sitzt im niederländischen Amsterdam, westlichen Geheimdiensten gilt sie als suspekt, weil allzu PKK-nah. Also sind die Firatnews-Meldungen mit Vorsicht zu genießen, sie sind gefärbt und einseitig. Auf derartige Quellen kann gleichwohl niemand verzichten, der sich ein Bild der Kämpfe machen will. Alle unabhängigen Journalisten haben Kobane verlassen. Und auch die westlichen Nachrichtendienste sind auf Internetquellen und die Luftaufklärung - vor allem der US-Luftwaffe - angewiesen.
In einem aber scheinen die Firatnews-Berichte zumindest von der Tendenz her zutreffend zu sein: Die Kämpfer des sogenannten "Islamischen Staates" erleiden größere Verluste als die Verteidiger. Das ist beim Kampf um Städte immer so. Die Verteidiger - und mögen sie auch so schlecht ausgerüstet und ausgebildet sein wie die kurdischen Volksmilizen in Syrien - genießen gegenüber den Angreifern erhebliche taktische Vorteile: Sie kennen das Gelände, sie können Keller, Verstecke und Vorsprünge für überraschende Feuerüberfälle auszunutzen. Ein zerstörtes Haus bietet oft mehr Deckungsmöglichkeiten als ein intaktes und Ruinen werden ohne großen Aufwand zu Barrikaden.
Mythos Häuserkampf
Der ehemalige britische Oberst Michael Dewar bezeichnet in seinem Buch "War in the Streets" eine Stadt als "unbarmherziges Gelände". Die taktischen Nachteile für die Angreifer seien gravierend, es gebe kein Unterholz und keine Gräben. Geländegewinn gehe praktisch immer mit hohen Verlusten einher: "Du kannst nicht ungesehen um eine Hausecke schleichen. Du musst dich dazu durchringen, in einem mutigen Akt um sie herumzustürmen."
Schwere Waffen helfen im Kampf Haus um Haus nur bedingt: Panzer können einige Unterstützung bieten, aber sie werden auch leicht selber zum Ziel für Angriffe mit Panzerfäusten oder Brandflaschen, sogenannte Molotowcocktails. Die kurdischen YPG-Milizen berichten, eine ihrer Kämpferinnen habe sich selber und einen IS-Panzer mit aufgesessenen Kämpfern in die Luft gesprengt. Überprüfen lässt sich das nicht. Aber die Geschichte sagt lässt erahnen, wie erbittert um Kobane gekämpft wird.
Opfermut und Entschlossenheit der Verteidiger gehören zur Signatur - und zum Mythos - des Häuserkampfes. Ob die Belagerung von Sarajevo im bosnischen Bürgerkrieg, die Zerstörung von Grosny im zweiten Tschetschenien-Krieg oder der sogenannte "Endkampf" um Berlin 1945: In der jüngeren Kriegsgeschichte verbinden sich mit den Schlachten um Städte besonders blutige und besonders grausame Erinnerungen. Als vor kurzem die ukrainische Armee auf Donezk vorrückte, warnte ein Kommandeur der prorussischen Separatisten: Die Ukrainer würden in den Straßen von Donezk "ihr Stalingrad" erleben. Jeder wusste, was gemeint war.
Nur GPS-gesteuerte Luftangriffe
Die Luftwaffe spielt beim Kampf um Städte nur eine nachgeordnete Rolle, denn in die Gefechte auf den Straßen und in den Häusern kann sie praktisch nicht eingreifen. Allerdings können Jagdbomber den Aufmarsch rund um eine Stadt stören, indem sie Panzer und Artillerie, Truppenansammlungen, Nachschubwege und Kommandoeinrichtungen angreifen. Genau das hat die US-geführte Koalition rund um Kobane getan.
Erst seit wenigen Tagen gibt es offenbar eine direkte Verbindung zwischen den kurdischen Verteidigern der Stadt und dem alliierten Luftkommando. Bis dahin konnten keine GPS-Koordinaten der Angriffsziele an die Piloten übermittelt werden. Moderne Kampfflugzeuge aber brauchen zumindest diese GPS-Daten, um ihre Ziele zu erfassen; auch die Präzisionsbomben müssen mit Zielkoordinaten gefüttert werden. Ausschließlich auf Sicht lassen sich nur noch in Ausnahmefällen Angriffe fliegen, und die sind dann zumeist wenig effektiv.
Das Vorrücken der Terrormiliz konnten die alliierten Luftschläge nicht stoppen, allenfalls verzögern. "Der militärische Druck durch IS dürfte sich noch weiter verstärken. Die Luftschläge haben bisher wenig Wirkung gezeigt", meint Peter Roell, Chef des Berliner Instituts für Strategie- Politik-, Sicherheits- und Wirtschaftsberatung im Gespräch mit der DW.
Keine Chance ohne Bodentruppen
Vor gut einem Monat hat die Schlacht um Kobane begonnen. Seitdem weisen Militärexperten und die US-Regierung darauf hin, dass ohne Bodentruppen, ohne Entsatz die Stadt auf Dauer nicht zu halten sein wird. Jede belagerte Stadt braucht irgendwann Hilfe von außen, auch das zeigt die Kriegsgeschichte. Der taktische Vorteil der Verteidiger erlischt nach und nach, irgendwann sind die Angreifer strategisch in der Vorhand: Wenn den Verteidigern Munition und Sanitätsmaterial ausgehen, wenn Wasser und Lebensmittel nicht mehr reichen. Nach Kobane war am Freitag nur noch eine einzige Straße von der türkischen Grenze aus offen; Nachschub kommt nur noch spärlich zu den Belagerten.
Ben Barry, Fachmann für Landkriegsführung am renommierten Londoner Institut für Strategische Studien (IISS) sagte der DW, der Fall der Stadt "hängt von der IS-Kampfkraft ab und davon, wie entschlossen sie sind, weiter vorzurücken". Das Heft des Handelns liegt nach dieser Analyse schon nicht mehr in Händen der Verteidiger. Am Freitagmittag meldete die kurdische Nachrichtenagentur Firatnews, die IS-Terrormiliz greife die Stadt von drei Seiten an.