Gegen Fake News: Was bringen Faktenchecks?
9. Januar 2019Es war die wohl größte Lüge, mit der Boris Johnson vor dem Brexit-Referendum 2016 Stimmung für einen EU-Austritt Großbritanniens machte: so groß, dass man sie schon aus mehreren Metern Entfernung problemlos lesen konnte. In dicken weißen Lettern stand auf seinem roten Bus: "Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen Pfund". Britische Journalisten belegten schnell, dass es in Wahrheit nur 110 Millionen waren. Trotzdem hielten in einer Umfrage 47 Prozent der Befragten die höhere Zahl für zutreffend; nur 39 Prozent waren sich sicher, dass sie falsch war. Die Lüge selbst hatte also eine höhere Reichweite als die Korrektur durch die Faktenchecker - und trug ihren Teil zur jenem schicksalhaften Abstimmungsergebnis bei, seit dem sich Großbritannien auf den Austritt aus der Europäischen Union vorbereitet.
Als kaum ein halbes Jahr später dann auch noch Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, war der Begriff "Fake News" in aller Munde: Soziale Medien wurden geflutet mit vermeintlichen Informationen, die jederlei Grundlage entbehrten, zum Beispiel über die angebliche Verstrickung von Trumps Konkurrentin Hillary Clinton in einen vermeintlichen Kinderpornoring in einer Washingtoner Pizzeria. Im Nachhinein gilt als sicher, dass manche der Trolle und Social Bots, die im US-Wahlkampf mit Fake News Stimmung machten, von Russland gekauft waren. Bei vielen dämmerte allmählich die Erkenntnis, wie gefährlich Desinformation in unserem Informationszeitalter für die Demokratie werden konnte. 2017 stimmten in einer Studie der Universität Mainz immerhin 74 Prozent der Befragten der Aussage zu, Fake News seien eine echte Gefahr für die Gesellschaft. Umgekehrt stieg das Vertrauen in die etablierten Medien wieder leicht. Um im Internet künftig die Fake-Spreu vom Fakten-Weizen zu trennen, führten mehr und mehr Redaktionen das Format des Faktenchecks ein.
Was macht ein Faktenchecker?
"Der Check ist für mich eigentlich das einzige Mittel gegen Fake News", sagt der ARD-Journalist Patrick Gensing im DW-Interview. "Ich kenne bislang keine Alternative." Der von Gensing verantwortete ARD-Faktenfinder startete im April 2017, also ein knappes halbes Jahr vor der Bundestagswahl, zu der eine ähnlich gesteuerte Meinungsmache befürchtet wurde wie bei der Trump-Wahl. Damals waren vier Redakteure beim Faktenfinder im Einsatz, seit November 2017 stemmt und koordiniert Gensing das Angebot alleine.
Am Beginn seiner Arbeit steht nicht zwangsweise eine klassische Falschmeldung wie das "Pizzagate" aus dem US-Wahlkampf, sondern häufig auch die Aussage eines öffentlichen Amtsträgers von Relevanz. "Wir hatten einen Fall vor Weihnachten, in dem der Arbeitgeberpräsident Zahlen zu Flüchtlingen genannt hat, die bereits sozialversicherungspflichtige Jobs haben", erzählt Gensing. Ingo Kramer hatte damals gesagt, dass von der Million Flüchtlinge des Jahres 2015 mittlerweile 400.000 beschäftigt seien. Weil ihm die Zahl selbst sehr hoch vorgekommen sei und er es interessant fand, habe er sie überprüft, sagt Gensing weiter: "Die Zahlen stimmten dann, aber ich habe trotzdem darüber geschrieben, weil ihm auch schon parallel dazu von anderer Seite vorgeworfen wurde, dass er Märchen erzähle."
Ob im Zusammenhang mit Integration, mit Gewalttaten oder dem UN-Migrationspakt, besonders häufig hat Gensing es nach eigener Aussage mit "Erzählungen von Rechtsaußen" zu tun: "Die meiste Arbeit haben wir eindeutig mit Falschmeldungen über Flüchtlinge." Ein anderes Beispiel war die Aussage des damaligen Verfassungsschutz-Chefs Hans-Georg Maaßen, der nach der spontanen Zusammenkunft Rechtsradikaler in Chemnitz die Echtheit eines Internet-Videos von diesem "angeblichen Vorfall" öffentlich anzweifelte. Faktenchecker, nicht nur bei der ARD, konnten keine Hinweise auf Manipulation feststellen, Maaßen ist mittlerweile entlassen.
Allerdings hört die Arbeit eines Faktencheckers nicht auf, wenn eine Zahl überprüft ist. Knapp zwei Jahre nach dem Start seines Angebots resümiert Gensing: "Wir haben festgestellt, wie lückenhaft Statistiken sind, wie wenig aussagekräftig dieses ganze Zahlenwerk ist, mit dem man versucht, das Leben zu vermessen." Statistiken vermittelten oft nur die halbe Wahrheit, man brauche immer auch Experten, die die Zahlen einordneten. "Diese Zahlengläubigkeit, die es teilweise gibt, ist irreführend." Zum Beispiel werde allein anhand der Zahlen in der polizeilichen Kriminalstatistik versucht, politische Debatten zu führen. "Das funktioniert überhaupt nicht", findet Gensing. Stattdessen sollte es einen einordnenden periodischen Sicherheitsbericht geben.
Wen erreichen Faktenchecks?
Eine grundlegende Herausforderung, die sich den Faktencheckern stellt, ist, zu denjenigen durchzudringen, die an die verbreiteten Fake News glauben. "Manche Leute bauen sich ihre eigenen alternativen Öffentlichkeiten in den sozialen Netzwerken und hebeln klassische Medien dadurch aus", sagt Alexander Sängerlaub gegenüber der DW. Er forscht für die Stiftung Neue Verantwortung im Bereich "Desinformation in der digitalen Öffentlichkeit". Zudem sei fraglich, ob Faktenchecks die Filterblasen bestimmter Zirkel überhaupt erreichten. "Wer Beatrix von Storch auf Twitter folgt, wird wahrscheinlich nicht immer anschließend beim Faktenfinder nachschauen, ob das, was sie getwittert hat, auch richtig war", so Sängerlaub.
Auch Patrick Gensing gesteht sich ein: "Diejenigen, die uns nicht glauben wollen, werden wir auch nicht erreichen." Die Zugriffszahlen des Faktenfinders sind laut eigener Aussage sehr unterschiedlich und bewegen sich zwischen wenigen Tausend bis hin zu mehreren Hunderttausend Aufrufen. Aber auch, wenn sich die Leserschaft bestimmter Falschmeldungen stark von der der Faktenchecks unterscheidet, ist Gensing vom Sinn seiner Arbeit überzeugt: "Es geht darum, dass die Menschen Muster erkennen und sich gleich an diese erinnern." Die Funktionsweise von Fake News sei häufig sehr ähnlich, "daher ist es sehr wichtig, dass man versteht, wie so etwas funktioniert und worauf man achten muss."
Die Grenzen der Faktenchecker
Diese Medienkompetenz zu vermitteln hält auch Alexander Sängerlaub für sehr wichtig, schließlich habe sich ein Paradigma grundlegend verändert: "Früher wurde erst verifiziert und dann publiziert. Heute wird in den sozialen Netzwerken erst mal publiziert - und dann kommt vielleicht noch jemand und prüft, ob das Veröffentlichte auch wahr ist." Seitdem jeder mit einfachsten Mitteln im Netz Inhalte veröffentlichen kann, hat der Journalismus seine Monopolstellung verloren: Als "Gatekeeper" veröffentlichten damals nur Redaktionen jene Informationen, die einer Prüfung standgehalten hatten. Zwar sind auch die gründlichsten hausinternen Faktenchecker nie vor Fehlern gefeit - und erst recht nicht davor, einem Betrüger auf den Leim zu gehen wie jüngst Claas Relotius beim "Spiegel". Das ist jedoch kein Vergleich zu Posts, die überhaupt keine Prüfung durchlaufen oder, noch schlimmer, gezielt darauf hingeschrieben werden, gewisse Wirkungen zu erzielen.
Das gilt im besonderen Maße für Fake News, die negative Emotionen auslösen sollen und deshalb in den sozialen Medien öfter geteilt und häufiger angezeigt werden, erklärt Sängerlaub. "Es entspricht quasi der Plattformlogik - und die Nachricht, dass es nicht so war, hat einen viel geringeren Nachrichtenwert." Hinzu kommt der zeitliche Vorsprung, den eine viral verbreitete Fake News gegenüber dem journalistisch recherchierten Faktencheck zwangsweise aufbaut.
Alexander Sängerlaub warnt jedoch auch davor, vor lauter Fake News die übrige Berichterstattung aus den Augen zu verlieren: "Journalismus kann natürlich auch nicht bedeuten, den ganzen Tag darüber zu berichten, was nicht stattgefunden hat. Da haben wir ja keinen Platz mehr für die richtigen Themen." Deshalb müsse die Gesellschaft langfristig für die digitale Öffentlichkeit fit gemacht und für die Gefahren von Falschmeldungen in sozialen Netzwerken sensibilisiert werden.