Kameruns vergessene Flüchtlinge
11. Juli 2018Pauline Agba wird im Flüchtlingscamp von Adikpo immer wieder von Bewohnern angesprochen. Die Mitarbeiterin des Caritas-Komitees für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (JDPC) ist gemeinsam mit 20 Kollegen sowie weiteren Hilfsorganisationen für die Betreuung zuständig. Sie trägt eine gelbe Weste, bleibt oft stehen und hört sich Sorgen und Nöte an. "Vor ein paar Tagen funktionierten die Wasserpumpen nicht", sagt sie und zeigt auf zwei Frauen, die am Gemeinschaftsbrunnen gerade Wasser holen. Zum Glück klappt die Versorgung nach einer Reparatur wieder. Heute fragt der 34-jährige Napoleon Egumu sie bei ihrem Rundgang nach Baumaterialien. "Wir brauchen Türen, um die Häuser weiter zu bauen", erklärt er und zeigt auf das halbfertige Gebäude. Er fühle sich sicher im Camp, sagt der junge Lehrer aus Kamerun.
Das Camp im nigerianischen Bundesstaat Benue befindet sich noch im Aufbau. Es sieht nicht so aus wie andere Flüchtlingsunterkünfte: Überall entstehen kleine Häuser, und Kinder gehen bereits in Schulen der Umgebung. Die Geflohenen stellen sich wie Behörden und internationale Organisationen auf einen langen Konflikt und steigende Flüchtlingszahlen ein. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) sind es mittlerweile mehr als 21.000 Menschen, die Kamerun seit Oktober 2017 verlassen haben. "Die Mehrheit von ihnen lebt auf der nigerianischen Seite im Bundesstaat Cross River, gefolgt von den Bundesstaaten Benue und Taraba", sagt Antonio Jose Canhandula, UNHCR-Repräsentant in Nigeria. "Und jeden Tag kommen mehr Menschen", ergänzt Remigius Ihyula, Priester und JDPC-Koordinator. "Das zeigt, dass sich die Situation in Kamerun nicht verbessert, im Gegenteil".
Der Wunsch nach Unabhängigkeit
Verlassen haben die Menschen den Südwesten Kameruns wegen des anhaltenden Konflikts in den beiden Regionen Nordwest und Südwest. Dort spricht die Mehrheit der Bewohner Englisch - neben Französisch die zweite Amtssprache in Kamerun. Von der Gesamtbevölkerung von knapp 25 Millionen machen die anglophonen Kameruner aber nur etwa 20 Prozent aus. Anglophone Kameruner klagen seit Jahren über Benachteiligungen. "Wir leiden dort. Unsere Kinder bekommen keine richtige Arbeit. Wir haben keine Straßen, nur Dörfer", sagt Dorothy Offum. Sie ist 35 Jahre alt und schaut starr geradeaus, wenn sie redet.
Mit sieben eigenen Kindern, einem Enkel und zwei weiteren Kindern ist Dorothy Offum geflüchtet. Sie kann sich nicht vorstellen, in das Land, das sie verlassen hat, zurückzukehren. "Wir möchten unsere Unabhängigkeit", erklärt sie und spricht damit aus, was viele andere Flüchtlinge denken. Tatsächlich sind die Bestrebungen danach in den vergangenen neun Monaten immer lauter geworden. Begonnen hatten die Proteste bereits im Herbst 2016, als Anwälte und Lehrer gegen die zunehmende Verwendung von Französisch im Justiz- und Bildungssystem demonstrierten. Bei den Protesten kamen mehrere Menschen ums Leben. Danach verschärfte sich die Situation weiter. Befürworter der Unabhängigkeit werfen der Regierung schwere Menschenrechtsverletzungen vor. Doch bis heute ist es schwer, verlässliche Informationen aus den beiden anglophonen Regionen zu erhalten.
Grausame Erinnerungen an die Flucht
In Adikpo fühlt sich Dorothy Offum endlich sicher. Das liegt auch daran, dass das Flüchtlingscamp mehr als drei Stunden von der kamerunischen Grenze entfernt ist. "Wir haben mit der Regierung darüber diskutiert. Wären sie in der Nähe der Grenze geblieben, hätte das für Unsicherheit gesorgt. Eventuell hätte die kamerunische Regierung nach ihnen gesucht", erklärt Antonio Jose Canhandula, UNHCR-Repräsentant in Nigeria. Das birgt jedoch eine logistische Herausforderung. Weitere Flüchtlinge müssen aus Grenz-Orten wie Abande geholt werden. Da die Straßen schlecht sind, ist das mit viel Aufwand verbunden und kann Wochen dauern.
Die schwierige Flucht klingt bei Gesprächen im Camp immer wieder durch. Eine Woche lang schlug sich auch Dorothy Offum durch, versteckte sich im Wald. In Nigeria angekommen lebte sie zuerst in zwei Grenzorten und kam Monate später in Adikpo an. Die Erlebnisse lassen sie nicht los. "Am Tag, an dem wir geflohen sind, ist auf die Menschen geschossen worden. Einige konnten sich ins Gebüsch retten. Andere starben." Neben ihr sitzt eine Frau, die stumm nickt. Mit knappen Worten sagt sie später, dass auf dem Weg nach Nigeria eins ihrer Kinder getötet wurde.
Der Konflikt in Kamerun ist nicht der einzige
Es sind Erlebnisse, über die viele erst nach und nach sprechen können. "Viele Menschen sind sehr traumatisiert. Darum hat sich bisher noch niemand gekümmert", sagt Remigius Ihyula. Er möchte den Flüchtlingen Gespräche anbieten, um die Grausamkeiten zu verarbeiten. Ohnehin sei es ein Konflikt, der bisher wenig Aufmerksamkeit erhält. Das liegt auch daran, dass Nigerias Middle Belt, zu dem auch Benue gehört, selbst von einer schweren Krise betroffen ist. Im Konflikt zwischen Farmern und Viehhirten sind seit Jahresbeginn viele hundert Menschen gestorben. Tausende haben ihre Häuser verlassen.
Darauf ist auch Antonio Jose Canhandula von UNHCR bei Besuchen in Benue mehrfach angesprochen worden. Letztendlich ließ er auch für diese nigerianischen Binnenflüchtlinge Hilfsgüter zusammenstellen. Auch er geht davon aus, dass die Flüchtlingszahlen steigen werden. "Unseren Informationen zufolge verbessert sich die Lage in Kamerun nicht, im Gegenteil. Sie spitzt sich mehr und mehr zu."