Jüdischer Bürgermeister mit Weitblick
6. Juni 2019Es ging denkbar knapp zu in Ioannina: Mit 50,3 Prozent der Stimmen verwies Moses Elisaf bei der Stichwahl den amtierenden Bürgermeister Thomas Begas - der immerhin auf 49,7 Prozent kam - auf Platz zwei. Die beiden Kandidaten hätten nicht unterschiedlicher sein können: Begas steht der regierenden Linkspartei Syriza nahe, wirkt locker und kumpelhaft. Dagegen macht der 64-jährige Elisaf einen seriösen und etwas distanzierten Eindruck, als spüre er die Last der Verantwortung.
Er tritt als unabhängiger Lokalpolitiker auf und dementiert Medienberichte, wonach die konservative Oppositionspartei Nea Dimokratia ihn favorisiert habe. "In Ioannina gab es immer wieder Kandidaten mit einem parteipolitischen Hintergrund, aber sie haben keine guten Ergebnisse geliefert", moniert Elisaf im Gespräch mit der DW.
Erst im September wird der neue Bürgermeister vereidigt. Auf ihn warten große Herausforderungen: Dichter Verkehr, kaum Parkplätze, mangelnde Straßenbeleuchtung, wenig Kinderspielplätze. Ioannina, Hauptstadt der nordwestlichen Region Epirus, gehört zu den schönsten Städten Griechenlands, ist aber in den vergangenen 40 Jahren eher planlos gewachsen. Doch in diesen Tagen überwiegt erst einmal die Freude: Sein Wahlerfolg, meint der Medizinprofessor, sei eine Auszeichnung für alle Anstrengungen der vergangenen Jahre und nicht zuletzt eine Botschaft gegen Vorurteile und Fanatismus.
Auch der Zentralrat der Juden in Griechenland begrüßt die Wahl. "Die Werte eines Menschen sind viel wichtiger als die Frage, ob er ein Jude oder ein Christ ist", sagt der Präsident des Zentralrats David Saltiel gegenüber der DW. Die Bürger von Ioannina hätten sich für einen fähigen Mann entschieden - und zudem ein deutliches Zeichen gegen Intoleranz und Antisemitismus gesetzt.
Ein jüdisches Kulturerbe - und viel mehr
Dass ein jüdischer Bürgermeister die Geschicke dieser Stadt lenkt, ist einleuchtend, wenn man die Spuren der Vergangenheit verfolgt. Schließlich kann die gesamte Region Epirus auf eine bewegte Geschichte und eine multikulturelle Tradition zurückblicken: Lange Zeit herrschten dort Venezianer und Osmanen; erst 1913 wurde Epirus dem jungen griechischen Staat einverleibt. Zu diesem Zeitpunkt galt die makedonische Metropole Thessaloniki - knapp drei Autostunden von Ioannina entfernt - als "Jerusalem des Balkans", denn nirgendwo sonst gab es ein so lebendiges jüdisches Leben.
Allerdings: In Thessaloniki lebten vor allem Sepharden, spanisch sprechende Juden, sagt Elisaf. Sie waren Nachfahren der Juden aus Spanien, die ihre Heimat im 15.Jahrhundert verlassen mussten und im Osmanischen Reich aufgenommen wurden. Dagegen war Ioannina Hauptstadt der Romanioten, der griechisch sprechenden Juden. "Sie pflegten ihre eigenen Sitten und Bräuche, sogar die Architektur ihrer Synagogen war anders", erklärt Elisaf, der seit 17 Jahren auch als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Ioannina amtiert.
Anfang des 20.Jahrhunderts lebten in der Stadt immerhin 5.000 Romanioten - mehr als ein Viertel der gesamten Stadtbevölkerung. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges waren es nicht mehr als 2.000. Während der deutschen Besatzung Griechenlands wurden fast alle deportiert und getötet. Aus den Konzentrationslagern kamen nur hundert von ihnen zurück.
Insofern habe der Wahlerfolg von Moses Elisaf eine besondere Bedeutung, meint auch David Saltiel, Präsident des Zentralrats der Juden in Griechenland: "Fast die gesamte jüdische Gemeinde von Ioannina wurde während des Holocaust ausradiert; 75 Jahre später wird am gleichen Ort ein Nachfahre von Holocaust-Überlebenden zum Bürgermeister gewählt."
Thessaloniki als Vorbild
Das neue Stadtoberhaupt legt Wert auf die Feststellung, dass in seiner Stadt orthodoxe Griechen, Muslime und Juden jahrhundertelang im Großen und Ganzen friedlich miteinander gelebt haben. Wie geht man als Bürgermeister mit der Vergangenheit um? Am besten offen und zukunftsgerichtet. Wie es funktioniert, zeigt ein Amtskollege aus Thessaloniki: Jannis Boutaris, parteiloser Bürgermeister und Ex-Winzer, hat es geschafft, das jüdische und osmanische Kulturerbe der zweitgrößten griechischen Stadt international bekannt zu machen und dadurch Hunderttausende Besucher anzulocken.
Boutaris habe in Thessaloniki den Weg gezeigt und Ioannina sei gut beraten, diesem Beispiel zu folgen, sinniert Elisaf. Einfach wird es nicht, schließlich musste auch Boutaris gegen Erzkonservative und Kritiker kämpfen. "Doch heute sehen selbst die Skeptiker ein, dass Boutaris letzten Endes recht gehabt hat", meint der neue Bürgermeister von Ioannina.
Zukunftsraum Westbalkan
Dass viele Menschen in Ioannina den Blick kaum nach außen richten, liegt nicht zuletzt an der Geographie. Jahrzehntelang war die bergige Region Epirus nur schwer zugänglich und lediglich für Naturliebhaber ein Geheimtipp. Mit dem Ausbau der griechischen Autobahnnetze in den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich viel geändert. Wichtiger noch: Die Nachbarschaft zu Albanien gilt nicht mehr als Bedrohung, sondern als Zukunftschance.
Das glauben jedenfalls Menschen mit Weitblick und zu denen gehört auch der neue Bürgermeister: "Nicht nur Albanien, sondern auch Kroatien, Montenegro, alle Länder des Westbalkans kommen auf einmal näher; sogar aus Sofia fährt man heute über die neue Autobahn in vier Stunden nach Ioannina" freut sich Elisaf. Und er fügt hinzu: "Wir haben die Chance, zu einer Regional-Metropole mit internationaler Ausstrahlung aufzusteigen".