Jüdische Frauen: Kämpferinnen im NS-Widerstand
4. August 2021"Wenn wir schon sterben müssen, dann lasst uns alle zusammen sterben. Aber lasst uns nach einem heldenhaften Tod streben." Mutige Worte einer jungen polnisch-jüdischen Frau im Februar 1943, gesprochen im jüdischen Ghetto in Będzin. Hier in Oberschlesien, im von Nazi-Deutschland besetzten Polen, befindet sich damals das Hauptquartier des jüdischen Widerstands. An einem eiskalten Februartag kommen Frauen und Männer zusammen, um eine wichtige Entscheidung zu fällen. Soll die polnisch-jüdische Anführerin des Widerstands, Frumka Plotnicka, mit Ausreisepapieren zum Internationalen Gerichtshof nach Den Haag reisen, um dort das jüdische Volk zu vertreten? Alle Augen richten sich auf Frumka, auch die der 19-jährigen jüdischen Widerstandskämpferin Renia Kukielka, die ebenfalls anwesend ist.
So schildert es die Historikerin Judy Batalion in ihrem Buch "Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen." Aus unzähligen Augenzeugenberichten, Gesprächen, Memoiren, Nachlässen und Archivdokumenten hat Batalion zehn Jahre lang eine beinahe vollständig vergessene Geschichte rekonstruiert, die zeigt, wie todesmutig und tapfer jüdische Frauen Widerstand gegen die Nazis leisteten, die Polen besetzt hatten. Hitlers Armee war im Osten nicht nur in Polen und die Sowjetunion eingefallen, sondern auch dazu übergegangen, die dort lebende jüdische Bevölkerung auszulöschen - in Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau, Sobibor und Treblinka.
Jüdinnen griffen zu Schusswaffen und Dynamit
Batalion ist Enkelin einer polnisch-jüdischen Holocaustüberlebenden, sie lebt heute in New York. Die in Montreal geborene Autorin stieß auf die noch nie erzählte Geschichte der jüdischen Frauen im bewaffneten Widerstand in der British Library in London. Bei der Durchsicht einiger historischer Dokumente fand sie eine jiddische Ausgabe von Freuen in di Ghettos (deutsch: Frauen in den Ghettos). Sie erwartete, so schreibt sie es in ihrem Buch, "langweilige hagiografische Klagen und schwammige talmudische Erörterungen weiblicher Stärke und Tapferkeit." Stattdessen fand sie: "Frauen, Sabotage, Schusswaffen, Tarnung, Dynamit."
Auf diese Entdeckung folgten zehn Jahre der Forschung und des Schreibens. Ihr Ergebnis: Unerwartet viele jüdische Frauen waren im von Deutschland besetzten Polen im Widerstand aktiv, in Ghettos von Będzin bis Warschau . Mit Tatkraft, Entschlossenheit und manchmal auch Gewalt schmuggelten polnisch-jüdische Frauen Schusswaffen, sabotierten deutsche Bahnlinien oder zündeten große Mengen Sprengstoff. Frumka Plotnicka starb 1943 im Gefecht gegen die Nazis, Renia Kukielka und unzählige weitere Frauen waren unter Einsatz ihres Lebens als sogenannte Kuriere tätig. Sie nutzten ihr vermeintlich "nichtjüdisches" Aussehen, um Menschen, Bargeld, Papiere, Informationen und Munition aus oder in die Ghettos zu bringen.
Kultureller Widerstand
Andere Widerstandskämpferinnen flüchteten in die Wälder und traten Partisanengruppen bei oder schlossen sich ausländischen Widerstandsverbänden an. Sie bauten Rettungsnetzwerke auf, die anderen Jüdinnen und Juden zu einem Versteck oder zur Flucht verhalfen. Außerdem leisteten sie, so schreibt Batalion in ihrem Buch, "moralischen, spirituellen und auch kulturellen Widerstand, indem sie ihre Identität verschleierten, jüdische Bücher unter die Leute brachten, auf Transporten Witze erzählten, um die Angst zu lindern und Suppenküchen für Waisen einrichteten."
Als Beispiel für diesen kulturellen Widerstand berichtet Batalion von Henia Reinhartz, einer jungen Frau im Ghetto von Łódź. Gemeinsam mit anderen Frauen rettete sie stapelweise Bücher aus der jiddischen Bibliothek der Stadt und schmuggelte sie ins Ghetto. "Es war eine Untergrundbibliothek", so schrieb Henia Reinhartz später selbst. "Lesen bedeutete, in eine andere Welt zu entfliehen, das Leben der Heldinnen und Helden zu leben, ihre Freuden und Leiden zu teilen, Freud und Leid eines normalen Lebens in einer normalen Welt, nicht wie die unsere voller Angst und Hunger." Batalion fügt hinzu, dass Henia den amerikanischen Roman Vom Winde verweht las, während sie sich vor der Deportation verbarg.
Ein Glücksfall von einem Buch
Judy Batalion ist es ein Anliegen, Kultur und Geschichten zu nutzen, um die Erinnerung an die jüdischen Frauen im Widerstand wieder zu beleben. Ihr Buch ist sowohl wissenschaftlich fundiert als auch spannend zu lesen. Mit viel erzählerischem Geschick und großer Gründlichkeit arbeitet Batalion einen vergessenen Teil der Geschichte auf.
Das Buch ist mit viel Feingefühl von Maria Zettner ins Deutsche übertragen worden, die im Interview mit der DW darauf hinweist, wie wichtig es ist, dass dieses Buch gerade auch in Deutschland erscheint: "Während ich übersetzt und gelesen habe, was den jüdischen Frauen von den Deutschen angetan wurde, habe ich mich geschämt. Wir tragen als Deutsche eine Verantwortung, diese Erinnerung aufrechtzuerhalten, sie auch für kommenden Generationen zu bewahren. Wir tragen eine Verantwortung dafür, dass so etwas nicht wieder geschieht."
Dabei seien in diesem Fall gleich zwei Geschichten vergessen worden, erklärt Judy Batalion der DW im Videointerview aus ihrer Wohnung in New York: "einerseits die Geschichte des jüdischen Widerstands, insbesondere in Polen. Und andererseits die weibliche Erfahrung des Holocausts, die erst in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erfahren hat."
Ein neues Kapitel des westlichen Feminismus
Dabei herrsche zurzeit ein großer Hunger auf genau solche Geschichten, beobachtet die Historikerin: "Das hängt damit zusammen, in welchem Kapitel des Feminismus wir uns gerade befinden. Wir finden es großartig, von diesen Frauen zu erfahren, zu wissen, dass unsere Vorfahrinnen so Widerstand geleistet haben. Frauen erreichen heute so viel, deshalb werden diese Gründungsgeschichten für uns gerade wichtig."
Ihr Frausein habe in der Entstehung des Buches eine große Rolle gespielt, sagt Batalion: "Ich bin Historikerin und ich bin eine Frau. Menschen wie mich gibt es kaum in früheren Generationen. Meine Lektorin ist eine Frau, meine Agentin ist eine Frau. Das sind neue Umstände. Ich bin dazu in der Lage, diese Arbeit zu tun, weil mich andere Frauen bezahlen und unterstützen."
"Ich bin einfach nur dankbar"
Der Einsatz dieser vielen Frauen hat sich bezahlt gemacht: Ihr Buch wurde in den USA und Großbritannien bereits mit Begeisterung aufgenommen, es stand auf der New York Times-Bestsellerliste und es gibt Interesse, daraus einen Film, eine Dokumentation, ein Theaterstück zu machen. Das freut die Historikerin sichtlich, aber sie bleibt bescheiden: Sie hoffe einfach, dass immer mehr Menschen von Renia und den anderen Widerstandskämpferinnen erfahren würden.
"Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen" ist am 29.07.2021 in deutscher Übersetzung im Piper-Verlag erschienen.