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Junge Stimmen zählen: EU-Wahl in Deutschland erstmals ab 16

8. Juni 2024

Mehr als eine Million Jugendliche in Deutschland hatten mit der Absenkung des Wahlalters bei der Europawahl die Möglichkeit abzustimmen. Ein überfälliger Schritt?

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Plakat  "Erster Kuss, erstes Mal, erste Wahl" an einem Bahnsteig, im Hintergrund ein roter Zug
Kampagne für die Europawahl 2024, Plakat in KölnBild: Fabian Navarro Rubio

Wenn die vielen 16- und 17-Jährigen in diesen Tagen hierzulande in einen Zug stiegen, sprangen ihnen am Bahnsteig viele Plakate ins Auge, die gewissermaßen nur für sie waren. "Bereit für das erste Mal" oder "Das erste Mal vergisst man nicht" hieß es dort doppeldeutig, und sollte sie dazu animieren, ihre Stimme bei der Europawahl am 9. Juni abzugeben.

Es sind einige der Gewinnermotive des bundesweiten Plakatwettbewerbs "Erste Wahl". Die Idee stammt von den drei Kölner Mediendesign-Studierenden Maja Steinbach, Maria Viktoria Junker und Fabian Navarro.

Sie sagen der DW: "Wir wollen die Wahl als ein positives, aufregendes Erlebnis zeigen, dass man etwas Neues ausprobiert. Die Jugendlichen sind gerade in einer Phase, in der sie die ersten wichtigen Entscheidungen treffen. Wir wollen sie da abholen. Die Zweideutigkeit ist unser Aufhänger: der erste Kuss, die erste Beziehung, das erste Mal. Ein Plakat, das sich abhebt von den normalen Plakaten mit all‘ den Vorteilen der EU."

Zum ersten Mal bei einer Europawahl konnten in Deutschland schon Jugendliche ab 16 Jahren ihr Kreuzchen machen. Neben den mehr als 1000 Plakaten auf deutschen Bahnhöfen schaltete die EU-Kampagne noch über eine Million Spots. Die Herausforderung: genau den richtigen Nerv zu treffen, um die jungen Menschen anzusprechen und nicht abzuschrecken.

Junger Mann hält eine Urkunde in der Hand, daneben zwei junge Frauen. Im Hintergrund Wahlplakat für die EU: Erster Kuss, erstes Mal, erste Wahl
"Junge Leute haben eine Meinung, möchten mitreden, gehört werden" - Fabian Navarro, Maria Junker und Maja SteinbachBild: EU

Für Steinbach, Junker und Navarro hieß das mit Blick auf die gerade einmal ein paar Jahre jüngere Zielgruppe: Individualität betonen, den aktuellen Trend treffen und die immer kürzere Aufmerksamkeitsspanne einpreisen. "Wenn wir ein paar Jugendliche mit unseren Plakaten dazu bewegen können, deswegen zur Europawahl zu gehen, sind wir zufrieden. Je mehr, desto besser."

Durchschnittsalter hoch, deswegen Politik meist für Ältere

Delara Burkhardt fing mit 15 Jahren während ihrer Schulzeit an, sich für Politik zu interessieren. Nur zu gerne hätte sie damals wählen dürfen. 2019 zog sie mit 26 Jahren als jüngste deutsche Abgeordnete ins Europäische Parlament ein, jetzt steht sie zum zweiten Mal auf der Bundesliste der SPD für die Europawahl.

Frau im blauen Hosenanzug steht vor einer Glaswand
"Was viele junge Menschen umtreibt, etwa: 'Kann ich eine eigene Wohnung beziehen?', das spielt oft keine Rolle“, sagt Delara BurkhardtBild: EP

"Wahlen ab 16 Jahren sind ein wichtiger Schritt, um einen demografischen Nachteil auszugleichen und die Stimme junger Menschen auf politischer Ebene aufzuwerten. Wir haben eine immer älter werdende Gesellschaft, die Perspektiven von jungen Menschen werden dagegen in der politischen Debatte viel zu selten gehört", sagt Burkhardt der DW.

Laut den Zahlen von Eurostat, der Statistischen Behörde der Europäischen Union, lag Deutschland im Jahr 2022 mit einem Durchschnittsalter von 45,8 Jahren auf Platz vier in Europa, nur in Italien, Portugal und Griechenland ist die Bevölkerung älter. Das hat natürlich Konsequenzen, wie und für wen Politik gemacht wird. In der jüngsten Studie der Vodafone-Stiftung zeigten sich immer noch drei von vier jungen Menschen zwischen 14 und 24 Jahren unzufrieden damit, wie ihre Interessen von der Politik einbezogen werden.

Jugendliche fühlen sich nicht wahrgenommen

Die Inflation, der Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten, der teure und knappe Wohnraum und der Klimawandel sind weiterhin die Themen, welche den jungen Menschen am meisten unter den Nägeln brennen. Burkhardt macht sich als umweltpolitische Sprecherin der SPD-Europaabgeordneten vor allem für mehr Klimaschutz stark, hält ihre Follower auf Tiktok, Instagram und X ständig auf dem Laufenden.

"Die jungen Menschen sind ganz oft überrascht, wenn ich ihnen von meiner Arbeit in Brüssel berichte. Die sagen dann Sachen wie: 'Ich wusste gar nicht, dass die EU sich darum kümmert' oder 'Dich interessiert ja wirklich, was wir denken'. Sie haben ganz oft das Gefühl, bisher nicht von der Politik wahrgenommen zu werden", berichtet sie der DW.

Neulich, erzählt Burkhardt, sei sie in einer Berufsschulklasse gewesen, und auf die Frage "Was glaubt Ihr, hat Politik mit Eurem Alltag zu tun?" habe sich kein einziger Schüler und keine einzige Schülerin gemeldet.

Die SPD-Europaabgeordnete hält unermüdlich dagegen, versucht in ihren Posts aus Brüssel und Straßburg die Komplexität der Europäischen Union ohne Politikjargon so verständlich wie möglich zu erklären: mit exklusiven Einblicken hinter die Kulissen, Bildern mitten aus dem Parlament. Doch dass sich Jugendliche vor allem über soziale Medien informieren, sei bei einigen Politikern allerdings immer noch nicht richtig angekommen.

"Ich habe die letzten fünf Jahre sehr intensiv als eine der wenigen Kolleginnen und Kollegen soziale Netzwerke bedient. Ich merke aber auch, dass viele jetzt erst zu Wahlkampfzeiten so richtig ihre Kanäle aktivieren. Aber so baut man keine Community auf, so erzeugt man keine Reichweite, so gibt man keine demokratischen Inhalte weiter. Da wurde viel zu lange viel zu wenig von den Parteien gemacht."

Ist Deutschland eine "unvollständige Demokratie"?

Von Professor Hermann Heußner kann man am besten erfahren, was die Parteien in den letzten Jahrzehnten noch so alles versäumt haben, wenn es um die Belange von jungen Menschen geht. Der Staatsrechtler an der Hochschule Osnabrück ist der Mann, der sich seit 30 Jahren für die Absenkung des Wahlalters stark macht und eine Art Sprachrohr für junge Wähler in Deutschland.

Er erklärt der DW: "Demokratie heißt ja, jeder soll wählen können und dürfen. Und das ist nicht der Fall, weil die Unter-18-Jährigen nicht wählen dürfen. Wer nicht wählt, der nicht zählt. Und wer nicht wählen kann, der kommt unter die Räder. Insofern sind wir nur eine unvollständige Demokratie."

Mann mit Brille, Bart und roter Krawatte schaut in die Kamera
"Je jünger die Leute, desto eher sind sie für Wahlen ab 16 Jahren. Je älter, desto mehr sind sie dagegen" - Hermann HeußnerBild: Hochschule Osnabrück

In insgesamt sechs Bundesländern dürfen inzwischen 16-Jährige auch bei Landtagswahlen ihr Kreuzchen machen: in Hamburg, Bremen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg und Brandenburg. Für die Bundestagswahl ab 16 müsste jedoch eine Grundgesetzänderung her. Aber es tut sich etwas: Deutschland gehört mit Belgien, Österreich, Griechenland und Malta zu den fünf europäischen Ländern, die bei der Europawahl 16- und 17-Jährigen das Wahlrecht einräumen.

Europawahl: Wählen schon mit 16 Jahren

"Die Jugendforschung und die Psychologie sagen, dass zwischen zwölf und 14 Jahren ein intellektueller Entwicklungsschub bei den Jugendlichen eintritt. Dann können sie wie Erwachsene weitgehend abstrakt, hypothetisch und logisch denken, können sich auch in andere hineinversetzen und die Interessen anderer Menschen wahrnehmen und berücksichtigen, komplexe Zusammenhänge intellektuell erfassen und verstehen."

Wahlen ab 16 Jahren vielleicht nur ein Zwischenschritt?

Für die Gegner einer Reform fehlt es den Jugendlichen jedoch immer noch an Reife und politischer Urteilsfähigkeit. Das führt dann in Deutschland zu der Schieflage, dass bei der letzten Bundestagswahl 39 Prozent aller Wahlberechtigten 60 Jahre und älter sind, die 18- bis 30-Jährigen dagegen nur 14 Prozent der Wähler stellen. Heußner nennt es eine Demokratie-Problematik, verschärft durch eine Demographie-Problematik. Der Jurist geht deswegen noch weiter in Sachen Generationengerechtigkeit und kämpft jetzt schon für ein Wahlrecht ab 14 Jahren. 

"Das kann erst der Anfang sein. Man sollte das testen, wie das mit 14 Jahren ist. Dass also Kommunen, wenn sie das wollen, Wahlen ab 14 ausprobieren und testen können. Das müsste man dann wissenschaftlich begleiten. Und wenn sich das bewährt, wovon ich eigentlich ausgehe, kann man das Wahlalter 14 flächendeckend einführen"

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur