Miete einen Juden!
10. Dezember 2016"Wer von Euch hat schon einmal einen Juden getroffen?" Im Klassenraum einer Berufsschule im westdeutschen Solingen sitzen 20 Teenager, fünf Hände gehen hoch. "Bestimmt bin ich schon einmal einem über den Weg gelaufen", sagt einer der anderen Schüler. "Aber das bekommt man ja nicht unbedingt mit."
Damit die Begegnungen bewusst stattfinden, wurde das Projekt "Rent a Jew" (Miete einen Juden) ins Leben gerufen. "Kennen Sie einen Juden? Nein?! Mieten Sie einen!", fordert die Webseite auf. Der provokative Titel ist bewusst gewählt, so die Initiatoren. Sie wollen Aufmerksamkeit erzeugen. "Rent a Jew" ist ein Projekt der Europäischen Janusz-Korczak-Akademie in München.
Rund 50 jüdische Männer und Frauen machen bei "Rent a Jew" mit. Nichtjuden erreichen sie, indem sie in Schulen gehen oder Seminare für Privatgruppen organisieren. So soll Kontakt hergestellt werden - und Vorurteile abgebaut. Auch Mascha Schmerling und Monty Aviel Zeev Ott lassen sich für das Projekt immer mal wieder mieten.
"Viele trauen sich nicht, 'Jude' zu sagen"
Ob sie der Name stört? "Wir wissen, dass es etwas fragwürdig klingt. Aber wir wollen ja bewusst provozieren und damit ins Gespräch kommen", sagt Mascha Schmerling. "Viele Leute trauen sich nicht, einfach 'Jude' zu sagen", fügt Ott hinzu. "Doch es geht vor allem um den Kontext."
Wie viele deutsche Juden ist die in Moskau geborene Mascha Schmerling in den 1990er Jahren aus der damaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen. Gemeinsam mit ihrer Mutter gehörte sie zu den sogenannten "Kontingentflüchtlingen". Die machen inzwischen etwa 80 Prozent der rund 200.000 in Deutschland lebenden Juden aus.
"Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, mit der Jüdischen Gemeinde ins Gespräch zu kommen", erklärt Mascha Schmerling das Projekt. "Wir wollen, dass sie sehen, dass wir ganz normale Leute sind. Wir wollen nicht nur von der Geschichte her definiert werden und wir wollen nicht, dass wir immer durch die Holocaust-Brille gesehen werden." Stattdessen wollen sie den Gästen zum Beispiel die eigene Religion näherbringen: "Wir wollen zeigen, wie offen und bunt das Judentum ist. Das Judentum ist so vielfältig."
Antisemitismus wächst
Dass das Zusammenkommen wichtig ist,zeigen auch die im März vom Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) in Berlin veröffentlichten Zahlen. Im Jahr 2015 wurden 34 Prozent mehr antisemitische Vorfälle verzeichnet als noch im Jahr davor. Bis in die internationalen Medien haben es Berichte darüber gebracht, wie zum Beispiel der über einen 21-Jährigen, der eine Kippa trug und von drei Männern zusammengeschlagen wurde.
Auch die Schüler in Mascha Schmerlings und Monty Aviel Zeev Otts Seminar wollen wissen, ob die beiden schon einmal angegriffen worden sind. Ott erzählt, wie er vor Kurzem von drei Männern belästigt wurde, als sie seine Kippa sahen. Sie umringten ihn und skandierten "Palästina!". Ott hat Konsequenzen gezogen: "Es gibt einige Gegenden in Berlin, in denen ich meine Kippa nicht mehr trage. In solchen Situationen ist die eigene Sicherheit höchste Priorität." Doch es sei nicht alles so schlimm, fügt er schnell hinzu. "Ich habe schon viele tolle Unterhaltungen gehabt, bei denen die Menschen neugierig genug waren, um auf mich zuzukommen." Es ermutige ihn, das zu sehen.
Vorurteile entlarven
Langsam fangen die Schüler in Otts und Schmerlings Seminar an, sich zu entspannen. Zeit für die beiden Seminarleiter, die Rollen zu wechseln: "Was fällt Euch ein, wenn ihr an das Judentum denkt?" fragen sie die Jugendlichen. Etwas zögerlich sagt der erste: "Juden sind gebildet." - "Keine schlechte Eigenschaft", gibt Schmerling zurück. "Das trifft aber sicherlich nicht auf alle zu."
"Geld", sagt der nächste und bringt damit seine Mitschüler zum zögerlichen Lachen und Staunen. "Das ist ein altes Vorurteil", erklärt Mascha Schmerling. "Aber leider trifft es nicht zu. Zumindest wurde das Geld nicht weitergegeben, falls es denn welches in meiner Familie gegeben haben sollte", scherzt sie. "Ja, wäre es nicht schön, wenn man einen Beutel voll Geld bekäme, wenn man konvertiert?" fügt Ott lachend hinzu.
Miteinander sprechen
Der 17-jährige Justin ist einer der Schüler, die an dem Seminar teilgenommen haben. Für ihn war es das erste Mal, dass er mit jemandem aus der jüdischen Gemeinde sprechen konnte. "Ich finde es wichtig auch zu erfahren, wie Angehörige anderer Religionen leben - und nicht nur die der eigenen", so der Jugendliche. Auch sein Klassenkamerad Mohamed war gespannt auf das Treffen mit Schmerling und Ott. "Ich habe viel über den jüdischen Alltag gelernt. Aber auch, dass viele Dinge, die ich bisher über Juden gehört hatte, nicht stimmen."
Für Schmerling und Ott ist das Widerlegen alter Vorurteile schon die halbe Miete: "Jetzt haben wir eine Chance, sie aus der Welt zu schaffen", sagt Mascha Schmerling. "Ins Gespräch zu kommen, das ist die Lösung für jedes Problem. Anstatt übereinander zu sprechen, müssen wir miteinander reden." Und genau das haben sie heute getan.