Die Tragik des Torschützen
26. April 2018Dieses Halbfinal-Hinspiel in der Champions League gegen Real Madrid war wieder einmal der Beweis für die alte Weisheit, dass es für Fußballer deutlich komplizierter ist, ein Spiel auf der Tribüne statt auf dem Rasen mitzuerleben. Die verletzten Münchner Profis Kingsley Coman, David Alaba und der auf Krücken angehumpelte Arturo Vidal litten auf ihren Sitzen auf der Haupttribüne mit ihren Kollegen mit, als seien sie die größten Fans ihrer Mannschaft. Und schlugen am Ende fassungslos die Hände über dem Kopf zusammen. Sie waren vor allem sprachlos und starrten ziellos auf den Rasen, als das 1:2 gegen die Königlichen feststand. Die Enttäuschung stand jedem von ihnen ins Gesicht geschrieben.
Davor hatten sie gejubelt, sie hatten geschrien, sie hatten bei jedem Angriff auf einen Treffer gehofft. Sie hatten bei gelungenen Aktionen geklatscht - und sie hatten geradezu schmerzhaft mitgelitten, wenn ihren Kollegen auf dem Rasen etwas nicht gelang. Die drei verhinderten Bayern-Spieler waren über 95 Minuten mitten drin in dieser engen Partie, obwohl sie rund 20 Meter entfernt zum Zuschauen verdammt waren. Der Teamgeist der Bayern, der in den vergangenen Tagen immer wieder Thema war, und vielfach gelobt wurde, scheint in der Tat intakt zu sein.
Treffsicher in der Champions League
Und als Joshua Kimmich die Führung erzielte, da riss es sogar den am Knie verletzten Vidal aus seinem Sitz und die drei Rekonvaleszenten lagen sich freudetrunken in den Armen. Der Grund für diesen Energieschub war die Freude über die Führung, aber wohl auch die Überraschung, dass Joshua Kimmich sich wieder in die Torschützenliste der Münchner eintrug. Schließlich ist der 23-Jährige Verteidiger vor allem für seine Bissigkeit in den Zweikämpfen sowie seine Offensivvorstöße mit sehr gut getimten Flanken bekannt. In der Bundesliga hat der 23-Jährige auch erst einen Treffer erzielt, dafür aber 12 Torvorlagen gegeben.
Nur in der Champions League geht dem rechten Verteidiger der Münchner das Erzielen von Treffern offenbar leichter vom Fuß. Und wie Kimmich in der 28. Minute über die rechte Seite sprintete und den Ball anstatt in die Mitte des Strafraums zu spielen aufs Tor drosch, war auch für Keylor Navas unvorhersehbar. Der Torhüter der Madrilenen orientierte sich in die Mitte und ließ den Ball passieren. In diesem Wettbewerb sind Kimmich in dieser Spielzeit damit bereits drei Treffer und drei Tor-Vorlagen gelungen - und er hat erneut den Nachweis geleistet, dass er zu den Top-Verteidigern in Europa gehört. Auch, weil er einer der wenigen Bayern-Spieler war, der in dieser Partie eine gute Form erreichte.
Verärgerter Kimmich
Kimmich zeigte nach dem Spiel allerdings keinerlei Freude über seinen Treffer. Vielmehr funkelten seine Augen vor Ärger. "Wir haben die Chancen nicht gemacht und Real hat zweimal aufs Tor geschossen", sagte Kimmich schnippisch. Lust schien er jedenfalls nicht zu haben, Fragen zu beantworten. "Ich habe uns acht bis neunmal gefährlich gesehen und nicht Madrid", sagte Kimmich. Dann ging er wortlos.
An ihm hatte es nicht gelegen, dass die Münchner unterlagen. In erster Linie hatte Kimmich eine Aufgabe zu erledigen, die sich nicht viele Verteidiger auf der Welt zutrauen dürften. Cristiano Ronaldo war ein häufiger Gegenspieler Kimmichs. Der Real-Angreifer versuchte immer wieder, sich über die linke Real-Außenbahn in Szene zu setzen. Und Kimmich war so unerbittlich und rigoros, als würde er einen gegen einen Allerwelts-Angreifer spielen. Auf dieser Seite konnte sich der wohl beste Stürmer der Welt jedenfalls nicht durchsetzen.
Ronaldo (fast) ohne Chance
Ganz "nebenbei" versuchte Kimmich auch noch das Spiel seiner Mannschaft anzukurbeln, als die Münchner nach Treffern von Marcelo (44.) und Marco Asensio (57.) - nach schwerem Abspiel-Fehler von Rafinha - bereits in Führung lagen. Und je länger die Partie andauerte, desto häufiger orientierte sich Kimmich in die Offensive. Er agierte fast als Rechtsaußen, wie es der in der ersten Hälfte bereits früh verletzt ausgewechselte Arjen Robben eigentlich hätte sein sollen. Er versuchte zu retten, was am Ende nicht mehr zu retten war.
Kimmich flankte und passte schier unermüdlich, bot sich immer wieder an, um noch mehr Aktionen einzuleiten. Er wollte seine Kollegen in Szene setzen, damit die Bayern diese Partie noch irgendwie drehen würden. Selbst im Sturmzentrum war Kimmich in den letzten Minuten anzutreffen. Aber an diesem Abend, gegen diese Real-Abwehr, konnte sich die Bayern-Offensive um Robert Lewandowsi und Franck Ribéry einfach nicht mehr entscheidend durchsetzen und vergab Chance um Chance. Coman, Vidal und Alaba werden in den kommenden Tagen Trost spenden müssen - für Kimmich und das gesamte Bayern-Team.