Joe Biden im TV-Interview: Kein Rücktritt geplant
Veröffentlicht 6. Juli 2024Zuletzt aktualisiert 6. Juli 2024Ein Exklusivinterview mit einem US-Präsidenten zur besten Sendezeit im Fernsehen – wenn so etwas vorkommt, hat der Sender, der das ausstrahlen darf, nicht nur Glück gehabt. Das Weiße Haus will mit solchen extrem seltenen Gesprächen etwas erreichen.
Das galt am Freitagabend auch für Präsident Joe Biden. Sein Interview mit George Stephanopoulos, das um 20 Uhr im US-Sender ABC ausgestrahlt wurde, sollte die Erinnerungen an seinen schlechten Auftritt bei der TV-Debatte gegen Donald Trump Ende Juni auslöschen. Damals war er teilweise kaum zu verstehen gewesen, wirkte konfus und gebrechlich. Doch auch das neueste Interview wird Kritiker, die den 81-Jährigen zu alt für den Job finden, auch nicht verstummen lassen.
"Präsident Biden machte definitiv einen klareren, verständlicheren Eindruck im Interview. Aber ich bezweifele, dass es seinem Wahlkampfteam dabei helfen wird, die kürzliche Debatte hinter sich zu lassen", sagte Filippo Trevisan, Politikwissenschaftler an der American University in Washington, der DW.
Den Eindruck hatten auch andere Experten. "Es ist unwahrscheinlich, dass das Interview den andauernden Schaden stoppen kann, den die Debatte letzten Monat losgetreten hat", sagt Brandon Conradis, Politikredakteur der Nachrichtenseite "The Hill" in Washington D.C. und ehemaliger DW-Mitarbeiter. "Wenn überhaupt, dann könnte es der Auslöser dafür sein, dass Bidens Kandidatur bald lebensverlängernde Maßnahmen braucht."
Verschließt Biden die Augen vor der Wahrheit?
Einer der Hauptkritikpunkte: Der US-Präsident nehme den Ernst der Lage nicht wahr. Auf die Frage, was er tun würde, sollten demokratische Politiker aus dem Senat und Repräsentantenhaus ihm sagen, die Demokraten verlören unter seiner Kandidatur die Mehrheit im Kongress, erwiderte Biden: "Diese Frage werde ich nicht beantworten."
Niedrige Zustimmungswerte in jüngsten Umfragen wischte er beiseite, und die Kritik aus den eigenen Reihen bezeichnete er als ganz normale Sorgen, die in einem Wahlkampf nun mal aufkommen. Außerdem habe er von solchen Sorgen bisher nur in den Medien gehört, kein Demokrat sei persönlich an ihn herangetreten.
"Mit dieser Argumentation riskiert Biden es bestenfalls, so auszusehen, als ob er von Beratern umgeben ist, die ihm keine schlechten Nachrichten überbringen wollen, und schlimmstenfalls wirkt es, als ob er die Realität nicht wahrhaben will", sagt Trevisan.
Biden: Gott müsste schon um Rücktritt bitten
In dem knapp halbstündigen Gespräch sprach Biden zwar auch langsam, und klang, wie ein 81-Jähriger nun mal klingt. Aber es war kein Vergleich zur Debatte, bei der Biden viele Sätze von sich gegeben hatte, die keinerlei Sinn machten. Biden hatte danach eine Erkältung und Erschöpfung nach Transatlantik-Reisen als Entschuldigung angegeben. Im ABC-Interview sagte er ganz klar, er habe keine Absicht zurückzutreten.
"Wenn Gott der Allmächtige sagen würde 'Joe, gib auf', dann würde ich aufgeben", sagte Biden. "Aber Gott kommt nicht." Er selbst sei der am besten geeignete Kandidat, um Trump bei der Wahl am 5. November zu schlagen, und er wolle weiter Präsident bleiben.
Aber: Biden lehnte den Vorschlag von Stephanopoulos ab, sich einem kognitiven Fitnesstest mit neurologischen Untersuchungen zu unterziehen. Das hatten Republikaner und auch einige Demokraten bereits gefordert.
"Ich absolviere jeden Tag einen kognitiven Test", konterte Biden und fügte hinzu: "Wissen Sie, ich mache nicht nur Wahlkampf, ich regiere die Welt."
USA "ringen mit sich selbst"
Ein Exklusivinterview mit dem Präsidenten und keine Fragen zur US-Wirtschaft, Abtreibung oder seiner Nahostpolitik – das ist schon höchst ungewöhnlich. Das sagt auch Ines Pohl, Chefin des DW-Studios in Washington.
"Dass es lediglich um seine Fitness ging und dass keine einzige Frage zu seiner aktuellen Politik gestellt wurde, spricht für sich selbst", so Pohl. "Die USA sind gefangen im Ringen mit sich selbst. Und das wird nach diesem Interview mutmaßlich noch einige Zeit so weitergehen."
Je mehr Raum die Diskussion um Bidens mentale Fitness einnimmt, desto weniger stehen Dinge wie Trumps unwahre Aussagen bei der Debatte oder seine andauernden Gerichtsprozesse im Fokus. Das seien "gute Nachrichten für Trump", sagt Pohl.
Das Interview, dass Wählersorgen beiseite räumen sollte, könnte stattdessen also dazu beigetragen haben, dass sich der Wahlkampf weiter hauptsächlich um das größte Problem der Demokraten dreht.
"Die Frage nach Bidens Alter und die Sorge um seine geistige Schärfe verschwinden nicht", sagt Trevisan. "Sie beanspruchen einen riesigen Teil der Medienaufmerksamkeit für sich. Und Donald Trump profitiert dankend davon."