Jesidin bewegte Papst zu seinem Irak-Besuch
8. März 2021Das Zustandekommen von Papstreisen hat seine ungeschriebenen Gesetze. Politiker und Staatsoberhäupter, aber auch katholische Kirchenfürsten oder andere religiöse Oberhäupter hoffen auf einen Besuch, um in den Blick der Weltöffentlichkeit zu kommen.
Doch bei der jüngsten Irak-Reise von Papst Franziskus war es einfach das Buch einer jungen Frau. Nadia Murad lebt in Deutschland und schilderte 2017 in einem weltweit veröffentlichten Buch ihr Schicksal und das Schicksal ihres Volkes. "Ich bin eure Stimme", heißt der deutsche Titel. In anderen Sprachen lautet er: "Das letzte Mädchen".
Auf seinem Rückflug von Bagdad nach Rom berichtete Papst Franziskus, dass ihn die Lektüre von Murads Buch zur Reise in den Irak bewegt habe. Eher zufällig am Weltfrauentag 2021 war dies eine Verbeugung vor der jungen Frau, deren Schicksal die Welt bewegte.
Papst empfiehlt Murads Buch, liest dort aber "schreckliche Dinge"
Der 84-jährige erwähnte bei seiner "fliegenden Pressekonferenz" die vielen irakischen Bemühungen von offizieller politischer Seite, ihn zu einem Besuch zu bewegen. Da sei die frühere Vatikan-Botschafterin Iraks, eine Kinderärztin, gewesen, die für den Besuch eintrat und "so darauf bestanden" habe.
Dann die irakische Botschafterin bei der Republik Italien, auch der neue irakische Botschafter beim Heiligen Stuhl, schließlich der irakische Präsident. "All diese Dinge sind in mir geblieben", sagte Franziskus.
Er wolle aber den wichtigsten Grund hinter seiner Entscheidung zur Reise nennen. Eine der Journalistinnen habe ihm die neueste Ausgabe des Buches "Das letzte Mädchen" von Nadia Murad geschenkt. "Ich habe es auf Italienisch gelesen, es ist die Geschichte der Jesiden."
Murad erzähle in dem Buch zwar erschreckende Dinge, trotzdem empfiehlt der Papst ausdrücklich, es zu lesen: "In einigen Punkten mag es heftig erscheinen, aber für mich ist dies der Hauptgrund für meine Entscheidung."
IS ermordet Mutter und Brüder von Nadia Murad
Nadia Murad wurde für ihr öffentliches Eintreten für das Schicksal der Jesiden im Terror des "Islamischen Staates" mit höchsten Auszeichnungen geehrt. 2016 erhält sie den Vaclav-Havel-Menschenrechtspreis der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Im gleichen Jahr folgt der Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments. Und im Oktober 2018 wird Murad sogar der Friedensnobelpreis 2018 zugesprochen. Nun hat sie auch einen Papst zur Reise in den Irak bewegt.
Bis zum 15. August 2014 führt die 1993 geborene Frau ein Leben wie viele andere Jesiden im Sindschar-Gebirge im nördlichen Irak. Sie geht im 2000-Einwohner-Dorf Kocho zur Schule und schmiedet Pläne für ihre Zukunft. Sie will Geschichte unterrichten oder einen Schönheitssalon aufmachen.
Dann stürmen Terroristen des sogenannten IS ihr Dorf, richten ein Blutbad an, ermorden vor ihren Augen sechs ihrer Brüder, weil diese sich weigern, zum Islam zu konvertieren, und ihre Mutter. Die Überlebenden, darunter auch Murad, werden nach Mossul gebracht. Ein IS-Kämpfer erhält sie als "Geschenk", er erniedrigt und foltert sie täglich.
Murad findet Zuflucht in Baden-Württemberg
Als sie fliehen will, wird sie in einen Raum gesteckt und gezwungen, sich auszuziehen. Die Wächter vergreifen sich an ihr, bis sie irgendwann in Ohnmacht fällt. Später sagt sie im Magazin "Time" über ihre Zeit als Sklavin des IS: "Ich wollte mich nicht umbringen, aber ich wollte, dass sie mich töten." Nach drei Monaten gelingt ihr die Flucht.
Zuflucht findet Nadia Murad in Baden-Württemberg, wo sie beginnt, ihre Erinnerungen aufzuarbeiten. Als das Schicksal der Jesiden zunehmend aus den Schlagzeilen verschwindet, beginnt Murad unermüdlich über die Gräueltaten gegen ihr Volk zu reden. Nach und nach wird sie zur Botschafterin für die Jesiden.
Und 2016 sogar Sonderbotschafterin gegen Menschenhandel bei den Vereinten Nationen. Der frühere UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sagt bei ihrer Ernennung, er sei "zu Tränen gerührt" vom Schicksal der jungen Frau, aber auch von "ihrer Kraft, ihrem Mut und ihrer Würde". Heute setzt sich die 27-Jährige dafür ein, dass niemand mehr solch ein Martyrium wie sie erdulden muss.
Römische Begegnungen: General- und dann Privataudienz
Und sie sorgt eben dafür, dass Papst Franziskus den Irak bereist. Bereits im März 2017 kommt es zu einer ersten kurzen Begegnung der beiden am Rande der Generalaudienz auf dem Petersplatz. Im Dezember 2018 reist Murad dann zur offiziellen Privataudienz zu Franziskus. Ein Vieraugengespräch. Einzelheiten über das Gespräch teilt der Vatikan danach nicht mit.
Seit der Schilderung des Papstes im Flugzeug weiß man mehr. Und nun ist auch klar, warum sich wiederholt in seinen Reden im Irak die ausdrückliche Erwähnung des Schicksals der Jesiden fanden. Als der Papst an der Stätte des antiken Ur, der Heimat des biblischen Abraham, bei einer interreligiösen Feier das Wort ergriff, nannte er in seiner eher ansonsten geistlich geprägten, grundsätzlichen Rede eine einzige konkrete Gruppe.
"Ich möchte insbesondere an die jesidische Gemeinschaft erinnern, die den Tod vieler Männer zu beklagen hatte und mit ansehen musste, wie tausende Frauen, Mädchen und Kinder entführt, als Sklaven verkauft sowie körperlicher Gewalt und Zwangskonvertierungen unterworfen wurden. Heute beten wir für alle, die solche Leiden erfahren haben, für alle, die immer noch vermisst und entführt sind, dass sie bald nach Hause zurückkehren."