Jenny Erpenbeck: "Heimsuchung"
6. Oktober 2018Heimatroman, das klingt nicht nach "Gute Bücher", sondern nach Trivialliteratur. Nach Geschichten, die den verkommenden Städten den Rücken kehren, um sich dem Leben einer vermeintlich unversehrten und überschaubaren Welt zuzuwenden. Doch unversehrt und überschaubar bleibt nichts in der Welt, der Jenny Erpenbeck in ihrem Roman "Heimsuchung" nachspürt. Aus der Perspektive von Bewohnern, Bediensteten und Besuchern rekonstruiert sie die Geschichte eines Sommerhauses an einem märkischen See, eine Stunde südöstlich von Berlin. Ein Haus, drei Familien, fünf Generationen: Auf nur knapp zweihundert Seiten verdichtet der Roman den Wahnsinn eines deutschen Jahrhunderts von der Weimarer Republik bis in die Nachwendejahre.
Da ist der Architekt aus Berlin, der seiner jungen Frau das reetgedeckte Haus am See baut. Der jüdische Nachbar, der vor den Nazis flieht und sein Grundstück für einen Spottpreis an den Architekten verkauft. Krieg, Zusammenbruch. Eine Schriftstellerin zieht ein. Sie kehrt aus dem russischen Exil zurück, um beim Aufbau der DDR zu helfen, im festen Glauben an die Utopie eines sozialistischen Deutschlands.
"I-c-h k-e-h-r-e h-e-i-m. Nein, sie und ihr Mann sind nicht nach Deutschland heimgekehrt, sondern sie wollten dies Land, und es war nur zufällig das, dessen Sprache sie sprachen, heimholen in ihre Gedanken. Wollten sich aus den deutschen Trümmern endlich irgendeinen Boden unter die Füße ziehen, der nicht mehr trügerisch wäre."
Die Bewohner des Seehauses tauchen auf und verschwinden, so wie die großen Ideologien der Zeit. Einzige Konstante in dieser Welt ist der Gärtner. Er ist einfach da. Tut was ein Gärtner eben tun muss, so stumm und selbstverständlich wie die Natur. Am Ende steht der Abriss (mit Entsorgung nach gültigen Emissions-Richtlinien), dann "gleicht die Landschaft für einen kurzen Moment wieder sich selbst". Ein neuer Zyklus kann beginnen in dieser Jahrtausende alten Landschaft aus Wald und Wasser.
"Heimsuchung" ist ein Roman über die Suche nach Heimat – und ihren Verlust. Und über die Beharrungskraft der Natur. Eine klug konstruierte historische Tiefenbohrung, verfasst in einer gradlinigen, fast wissenschaftlich-nüchternen Sprache, zu Recht als Jahrhundertroman gefeiert.
Der Blick auf die Vergangenheit und das Verschwinden prägt das Werk von Jenny Erpenbeck , ob es um die langen Schatten der Kindheit geht ("Das alte Kind", "Wörterbuch") oder um eine Hommage an den Abschied ("Dinge, die verschwinden"). In ihrem 2015 erschienenen Roman "Gehen, ging, gegangen" wendet sich die Schriftstellerin dem ganz aktuellen Drama der Flüchtlinge zu.
Jenny Erpenbeck: "Heimsuchung" (2008), erhältlich im Penguin Verlag
Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, ist gelernte Buchbinderin und Theater-Regisseurin. Sie debütierte 1999 mit der Novelle "Geschichte vom alten Kind". Für ihr Werk wurde sie vielfach ausgezeichnet (u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Independent Foreign Fiction Prize und dem Thomas-Mann-Preis). Ihre Bücher sind in rund 20 Sprachen übersetzt.