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Jeder zehnte Syrer auf der Flucht

Najima El Moussaoui5. September 2013

Während Obama mit einem Militärschlag gegen Assad zögert, packen täglich 5000 Syrer ihre nötigsten Habseligkeiten zusammen und verlassen ihre Heimat. Nicht nur die UN sieht das als "humanitäre Katastrophe".

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Sawssan Abdelwahab, who fled Idlib in Syria, walks with her children outside the refugees camp near the Turkish-Syrian border in the southeastern city of Yayladagi in this February 16, 2012 file photograph. The civil war that has unfolded in Syria over the past two and a half years has killed more than 100,000 people and driven millions from their homes. Now, in the wake of last week's chemical weapons attack near Damascus, the world is waiting to see what action Western powers will take and what impact this will have on the Middle Eastern nation and the rest of the volatile region. REUTERS/Zohra Bensemra/Files (TURKEY - Tags: CIVIL UNREST POLITICS) ATTENTION EDITORS: PICTURE 9 OF 40 FOR PACKAGE 'SYRIA - A DESCENT INTO CHAOS.' SEARCH 'SYRIA TIMELINE' FOR ALL IMAGES
Syrische Flüchtlinge an der türkischen GrenzeBild: Reuters

Eine junge Familie verlässt ihr Zuhause in Aleppo, um zu flüchten, wird aber auf der Straße angehalten und zwei Tage lang festgehalten und gefoltert. Später gelingt es ihr, illegal die Grenze zur Türkei zu passieren. Dann zurück über Syrien in den Irak. Fünf Tage, nachdem die Familie ihre Wohnung verlassen hat, kommt sie in das Behandlungszelt der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" am Kontrollpunkt Peschkabour zwischen Syrien und den kurdischen Gebieten im Nordirak.

Dort behandelt sie der Arzt Tankred Stöbe, Vorstandsvorsitzender der Organisation. "Sie waren vollkommen erschöpft und hatten eine eingefrorene Mimik. Die Kinder hatten Durchfall und Fieber und mussten vor Ort direkt behandelt werden." Immer wieder erzählen Flüchtlinge dem Arzt, man habe sie an der Flucht hindern wollen.

Dennoch ist die Not vieler Menschen offenbar so groß, dass von den knapp 20 Millionen Syrern viele die Strapazen und Risiken einer Flucht auf sich nehmen. Seit Machthaber Baschar al-Assad und seine Gegner sich einen unerbittlichen und blutigen Kampf liefern, haben laut Angaben des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen UNHCR mehr als zwei Millionen Menschen Syrien verlassen: Jeder zehnte Syrer ist auf der Flucht.

Ärzte ohne Grenzen-Mitarbeiter Tankred Stöbe in einem Behandlungsraum (Foto: Ärzte ohne Grenzen)
Tankred Stöbe von "Ärzte ohne Grenzen"Bild: Ärzte ohne Grenzen

"Kein Unterschied zwischen Arm und Reich"

Die Flüchtlingswelle ziehe sich quer durch alle Bevölkerungs- und Altersschichten: Kinder, Frauen, Ärzte, Lehrer, Kaufleute. "Der Konflikt unterscheidet nicht zwischen Arm und Reich. Die Familien fliehen in dem Moment, in dem sie sich einer persönlicher Gefährdung ausgesetzt fühlen. Das betrifft alle", berichtet Karl-Otto Zentel, Generalsekretär der Hilfsorganisation CARE Deutschland-Luxemburg im Gespräch mit der DW. Die Hilfsorganisation CARE unterstützt syrische Flüchtlinge in den städtischen Gebieten Jordaniens, Libanons und Ägyptens.

Nach zum Teil tagelangen Fußmärschen sind die Flüchtlinge, die es über die Grenze schaffen, völlig erschöpft. Tankred Stöbe berichtet von schwangeren Frauen und kraftlosen Kindern, die in den Flüchtlingslagern ankommen. Viele seien aufgrund von Durst oder Durchfall ausgetrocknet oder hätten Fiebererkrankungen. Dabei hätten sich ohnehin nur die Robusten auf den Weg gemacht: "Nur Menschen, die relativ gesund und mobil sind, schaffen den Fußmarsch bis über die Grenze", erklärt der Mediziner.

Drohende Destabilisierung der Nachbarländer

Allein der Libanon hat bis Ende August mehr als 700.000 syrische Flüchtlinge registriert. Jordanien hat etwas mehr als eine halbe Million Syrer aufgenommen, die Türkei knapp eine halbe Million. Im Irak leben mehr als 170.000 syrische Flüchtlinge und nach Ägypten haben es mehr als 100.000 Syrer geschafft. Damit haben die Länder in der Region nach Angaben der UN 97 Prozent der syrischen Flüchtlinge aufgenommen.

Syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern: Grafik von Peter Steinmetz/DW 2013_09_04 FluechtlingeSyrien.psd

Wohnungen, Arbeit, medizinische Versorgung und optimalerweise auch Bildung - diese Bedürfnisse sollen die aufnehmenden Länder erfüllen. Doch die Flüchtlingszahlen sind so groß, dass auch die soziale Struktur dieser Länder gefährdet ist. Beispielsweise wuchs die Bevölkerung im Libanon durch die Flüchtlinge um fast 20 Prozent. Otto Zentel von der Hilfsorganisation CARE berichtet, dass es deshalb zu sozialen Spannungen und steigenden Mietpreisen gekommen sei.

Vor dem Problem einer Destabilisierung der Nachbarländer warnt auch die EU. Die für humanitäre Krisen zuständige EU-Kommissarin Kristalina Georgieva erklärte in Brüssel, der "Exodus aus Syrien" bedeute "auch erhebliche Opfer für die hilfsbereiten Gastländer". Auch die Hollywood-Schauspielerin und UNHCR-Botschafterin Angelina Jolie mahnte vor den Folgen der Flüchtlingswelle: "Wenn die Situation sich weiter in dieser Geschwindigkeit verschlechtert, wird die Zahl der Flüchtlinge weiter steigen und einige Nachbarländer könnten vor dem Kollaps stehen."

Nach der Flucht kommt der Frust

Die Perspektiven für die Millionen Flüchtlinge, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, sind zwar schlecht einzuschätzen. Fakt ist aber, dass derzeit die Gewalt in Syrien eher zu- als abnimmt. Es gibt keine Anzeichen für eine baldige oder gar friedliche Lösung des Krieges zwischen dem Assad-Regime und der syrischen Opposition.

Ein Junge vor einem Zelt in einem syrischen Flüchtlingslager im Libanon (Foto: World Vision Deutschland)
Die meisten Flüchtlingslager sind überfülltBild: World Vision Deutschland.

Und das erkennen auch die Flüchtlinge: Tankred Stöbe von "Ärzte ohne Grenzen" beobachtete, dass die Menschen, die gerade über die Grenze Syriens gekommen seien, "fast immer unfähig sind, irgendeine emotionale Regung zu zeigen". Bei einem Besuch eines Lagers, in dem die Menschen seit einer oder zwei Wochen lebten, stellte er fest, "dass sie durchaus zufrieden und erleichtert" waren. "Die dritte Dimension sieht man in den Flüchtlingslagern, wo die Menschen schon Monate und Jahre sind. Da kehrt dann eine Frustration ein. Die Menschen realisieren, dass diese vorübergehende Unterkunft eine permanente wird."