Ein Europäischer Lotse geht von Bord
24. November 2019"Ich gehe nicht betrübt, auch nicht übermäßig glücklich, aber im Gefühl mich redlich bemüht zu haben", sagte Jean-Claude Juncker in seiner letzten Rede im Europäischen Parlament. In seiner fünf Jahre währenden Amtszeit als Präsident der EU-Kommission hat er "Licht und Schatten" erlebt, räumte Juncker ein. Über zwanzig Jahre hat er auf der politischen Bühne der EU ganz vorne mitgespielt. Erst als Finanz- und Premierminister seines Heimatlandes Luxemburg, dann als Vorsitzender der Staaten, die den Euro als Währung haben, und schließlich als Chef der politischen Verwaltung der EU. Mit 65 Jahren will sich Juncker, den immer wieder gesundheitliche Probleme plagten, jetzt zur Ruhe setzen, ein Buch schreiben und mehr Gedichte von Rilke lesen.
Herausforderung Migration
Als Präsident der Kommission musste Juncker vielschichtige Krisen managen: Griechenland musste vor der Pleite gerettet und der Euro-Währungsraum stabil gehalten werden. Die Folgen der Welt-Finanzkrise, schwaches Wirtschaftswachstum und zu hohe Arbeitslosigkeit mussten bekämpft werden. Die Zuwanderung von Migranten über die Balkanroute und das Mittelmeer belasteten die EU schwer. Es gelang Juncker zusammen mit einigen willigen Staats- und Regierungschefs einen Deal mit der Türkei und Libyen zu finden, um die Migrationszahlen stark zu drosseln. Doch gelöst ist diese Krise am Ende seiner Amtszeit nicht. Die Mitgliedsstaaten konnten sich bis heute nicht auf die Vorschläge der Juncker-Kommission zu einer Reform des Asylsystems und einer Verteilung von Asylbewerbern auf die ganze EU einigen. Jean-Claude Juncker forderte immer wieder Solidarität der Mitgliedsstaaten untereinander und mit den Herkunftsländern vieler Migranten in Afrika.
"Es geht nicht um Barmherzigkeit, was ein alter Reflex der Europäer ist, sondern darum, eine echte Partnerschaft zwischen Europa und Afrika zu entwickeln, in Afrika zu investieren, Arbeitsplätze in Afrika zu schaffen. Das muss das Leitmotiv sein. Wir dürfen Afrika nicht immer nur durch das Prisma der Flüchtlingskrise sehen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Unglücklichen gar nicht erst in die Boote steigen", sagte der scheidende Kommissionspräsident in seiner Bilanz vor dem Europaparlament.
Seine Küsse waren gefürchtet
Freunde und politische Gegner hat Jean-Claude Juncker mit seinem zupackenden Charme bedacht. Seine Küsse und Umarmungen für Präsidenten, Kanzlerinnen und Potentaten sind berühmt in Brüssel. "Ich habe Putin und Erdogan geküsst", bekannte Juncker in einem Interview mit dem deutschen Magazin "Der Spiegel". "Beides war für Europa sicher nicht von Nachteil", merkte Juncker noch verschmitzt an. Sein eigenwilliger Humor sorgte in Brüssel manchmal für Verwunderung. Mal wuschelte er einem Minister vor einer Sitzung wild durch die Haare, einem anderen gab er einen dicken Schmatzer auf die Stirn, den ungarischen Premierminister Viktor Orban begrüßte er bei mehreren Treffen lachend mit "Hallo Diktator!". Mit dem ungarischen Ministerpräsidenten, der zu Junckers christdemokratischer Parteienfamilie gehört, lag Juncker überkreuz. Orban unterhöhlt nach Überzeugung der EU-Kommission die rechtsstaatlichen Fundamente seines Landes. Im Wahlkampf ließ Orban Juncker-Porträts mit EU-feindlichen Sprüchen im ganzen Land plakatieren. Am Ende räumte Jean-Claude Juncker ein: "Bei Orban habe ich aufgegeben."
Stupider Nationalismus
Orbans Macht in Ungarn ist für Jean-Claude Juncker nur der Ausdruck einer größeren Krise, die sich während seiner Amtszeit weiter zugespitzt hat, der Vormarsch der nationalistischen und rechtspopulisitischen Kräfte in vielen EU-Mitgliedstaaten von Frankreich über Dänemark, Belgien, Polen, Deutschland bis nach Österreich und Italien. Vor diesem "stupiden Nationalismus" müsse Europa geschützt werden, rief der Luxemburger aus. "Ich liebe Europa", bekennt Juncker mit großer Überzeugung. Für den Sohn eines Stahlarbeiters, der zum Dienst in der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gezwungen wurde, war und ist Europa vor allem ein Friedensprojekt. "Die größte Leistung der EU bleibt, dass wir den Frieden bewahrt haben. Das ist nicht selbstverständlich." Das müsse man auch jungen Menschen immer wieder klar machen, gibt Juncker seinen Nachfolgern mit auf den Weg. "Man muss sich ja nur die unmittelbare Nachbarschaft Europas anschauen, um zu verstehen, wie gefährlich die internationale Situation, und wie fragil dadurch auch die Lage der EU ist."
Trump umgarnen
In Washington hat Jean-Claude Juncker es inmitten all der neuen Handelskonflikte verstanden, den amerikanischen Präsidenten Donald Trump davon abzuhalten, Strafzölle auf europäische Automobile zu verhängen, zumindest vorläufig. "Trump hat mir erzählt im Weißen Haus, dass er schon mit allen möglichen Präsidenten und Regierungschefs aus Europa gesprochen hatte. Dann konnte ich ihm sagen, die EU ist alleine für Handel zuständig. Sie müssen mit mir sprechen", berichtete Juncker nach den heiklen Gesprächen mit dem Handelsgegner Trump. Er habe ihm ein Foto eines amerikanischen Soldatenfriedhofs in Luxemburg geschenkt. Das habe Trump schwer beeindruckt, meinte Juncker. "Jean-Claude Junckers zentrales Talent ist das Finden von Kompromissen", lobt der Fraktionsvorsitzende der Christdemokraten im Europaparlament, Manfred Weber. Andere halten Juncker jedoch für eine Fehlbesetzung, wie der Chef der Rechtspopulisten im Parlament, Marco Zanni. Juncker habe ein gespaltenes Europa hinterlassen, das auf die Sorgen der Bürger bei Migration, innerer Sicherheit und Wirtschaftswachstum keine Antworten habe, kritisierte der italienische Lega-Abgeordnete.
Niederlage Brexit
Die Umarmungstaktik von Jean-Claude Juncker hat aber auch Grenzen. "Nigel Farage habe ich nie geküsst", sagte Juncker nach einer Redeschlacht über den Brexit, den Ausstieg Großbritanniens aus der EU. Nigel Farage versteht sich im Parlament als Wortführer der Brexit-Vorkämpfer und hat oft scharfe Redeattacken gegen Juncker geritten. "Was machen Sie denn noch hier", pflaumte Juncker den Briten an, als der auch nach dem gewonnenen Brexit-Referendum im Plenum auftauchte. Als die beiden Männer dann die Köpfe zusammensteckten, entstand ein Foto, das einen Kuss auf die Wange nahelegte. "Ich habe ihm nur ein Schimpfwort ins Ohr geflüstert", sagte Juncker hinterher. Den Brexit, der mittlerweile auf den 31. Januar 2020 verschoben ist, empfindet der Kommissionspräsident als seine größte Niederlage. Er hätte in die Wahlkampagne vor dem Referendum eingreifen sollen, findet Juncker heute. Es auf Anraten des damaligen Premiers David Cameron nicht zu tun, sei "ein großer Fehler" gewesen.
Letzte Chance?
In seiner ersten "Rede zur Lage der Union" hatte Juncker seine EU-Kommission mitten in der tiefen Krise um das zahlungsunfähige Griechenland und einer erstarrten EU als "Kommission der letzten Chance" bezeichnet. Hat er diese Chance genutzt? Wirtschaftlich hatte er ein glückliches Händchen. Sein Investitionsprogramm von 300 Milliarden Euro funktionierte. Arbeitsplätze wurde geschaffen. Die Bilanz bei einer angestrebten tiefgreifenden Reform der EU, die auch der französische Präsident Emmanuel Macron fordert, ist mager. Es gab einige kosmetische Operationen, aber die Strukturen und Probleme blieben. Für Junckers Vorschlag, die Präsidentschaft der EU-Kommission und des Europäischen Rates zusammen zu legen, hatten die mächtigen Staats- und Regierungschefs nur ein müdes Lächeln übrig. Abgeblitzt ist die scheidende EU-Kommission in diesem Herbst mit ihrem Versuch, wenigstens Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nord-Mazedonien aufzunehmen. "In meiner Amtszeit wird es keine Beitritte geben", hatte der frisch gebackene EU-Kommissionspräsident 2014 versprochen oder angedroht, je nach Blickwinkel. Daran hat er sich gehalten.
Seiner Nachfolgerin Ursula von der Leyen wünschte Jean-Claude Juncker natürlich alles Gute und viel Glück. "Ich gebe aber keine Ratschläge, schon gar nicht öffentlich. Alles, was ich jetzt sagen würde, wäre mehr Schlag als Rat", sagte Juncker mit einem Schmunzeln beim seinem letzten EU-Gipfel, dem 148. Gipfel in seiner Laufbahn.