Japan: Aufrüsten für mehr Sicherheit
2. Dezember 2021Japans neuer Premier Fumio Kishida setzt in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf mehr Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Dafür lässt der 64-jährige Regierungschef die nationale Sicherheitsstrategie und die Richtlinien für Verteidigung bis zum nächsten Jahr überarbeiten. Zugleich steigen unter seiner Führung die Verteidigungsausgaben um einen zweistelligen Prozentsatz auf eine Rekordhöhe. Am Wochenende betonte Kishida vor 800 Soldaten im Camp Asaka nahe Tokio, dass zu neuen militärischen Optionen auch vorbeugende Schläge auf feindliche Stützpunkte gehören könnten. Die dafür notwendigen Waffen besitzt Japan bisher nicht, weil seine pazifistische Verfassung einen Angriffskrieg verbietet.
Verändertes Sicherheitsumfeld
Konkret packt Kishida zusätzliche 774 Milliarden Yen (sechs Milliarden Euro) für Verteidigung in den Nachtragshaushalt, den das Kabinett am vergangenen Freitag beschloss. Mit dem Geld kauft Japan Flugzeuge zur Seeüberwachung, Seeminen und andere Waffen schneller ein als geplant. Somit wachsen die Gesamt-Verteidigungsausgaben für 2021 um 14 Prozent zum Vorjahr auf den Höchstwert von 6,1 Billionen Yen (47,7 Milliarden Euro). Erstmals übertrifft die Summe die inoffizielle Obergrenze für das Verteidigungsbudget von einem Prozent der Wirtschaftsleistung.
Die erhöhten Ausgaben spiegeln die Entschlossenheit der Regierung in Tokio wider, "die eigenen nationalen Verteidigungskapazitäten zu stärken, um das amerikanisch-japanische Bündnis und die regionale Sicherheit weiter zu festigen" - so hatte es der damalige Premierminister Yoshihide Suga beim Gipfeltreffen in Washington im April dieses Jahres US-Präsident Joe Biden versprochen. Sein Nachfolger Kishida begründet seine Schritte mit der Entwicklung in Ostasien. Das Sicherheitsumfeld von Japan verändere sich mehr denn je, erklärte Kishida mit Blick auf die zahlreichen Waffentests von Pjöngjang und die Rüstungsanstrengungen von Peking.
Der Premier steht auch unter Druck von Hardlinern wie Sanae Takaichi. Die ultrakonservative Politikstrategin der Regierungspartei LDP drängt auf eine Verdoppelung der Verteidigungsausgaben auf über zwei Prozent der Wirtschaftsleistung. Diese Forderung macht sich der LDP-Koalitionspartner, die pazifistisch orientierte Komei-Partei, zwar nicht zu eigen, stimmte aber der Budgeterhöhung zu.
"Japans Verteidigungspolitik vollzieht einen Richtungswandel", erklärt der deutsche Japan-Kenner Sebastian Maslow. "Dabei werden die Parameter des Nachkriegspazifismus neu definiert." Premier Shinzo Abe habe in seinen knapp acht Amtsjahren zwischen 2012 und 2020 den Ausbau einer stärkeren Verteidigungskapazität mit modernen Waffensystemen beschleunigt. Zugleich engagierte sich die Inselnation stärker in der Allianz mit den USA. Laut Maslow wird Kishida diesen Kurs fortsetzen: "Japan bringt sich sicherheitspolitisch stärker ein, um sich der neuen regionalen Sicherheitslage anzupassen", sagt der deutsche Politikwissenschaftler, der an der Frauenuniversität Sendai lehrt.
Unberechenbarer Verbündeter USA
Der US-Politikwissenschaftler Hal Brands von der Johns Hopkins-Universität in Baltimore spricht gar von einer "außenpolitischen Revolution": Japan könnte der wichtigste Verbündete der USA im 21. Jahrhundert werden und dabei Großbritannien ablösen. Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg habe Japan auf eine selbständige Außenpolitik verzichtet und seine Sicherheit an die USA ausgelagert. "Diese Ära des Stillhaltens ist nun vorbei", schreibt Brands. Dazu hätten nicht zuletzt die Erfahrungen mit der unberechenbaren "America first"-Politik von Donald Trump beigetragen. Dieser habe die Allianz mit Japan in Frage gestellt und die geplante Transpazifische Partnerschaft (TPP) scheitern lassen, die auch als Antwort auf Chinas Vordringen im pazifischen Raum gedacht war. Ob der "ruhigere Rhythmus", den Biden in die bilateralen Beziehungen gebracht habe, seine Amtszeit überdauert, sei aus Tokioter Sicht nicht garantiert.
Der Hauptgrund für Japans selbstbewussteres Auftreten sei aber Chinas Streitsüchtigkeit: Peking fordere die japanische Hoheit über die Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer heraus und bedrohe Taiwan an der südlichen Flanke von Japan. "Die chinesische Führung macht jede Menge Anspielungen, dass sie Japan, das von China im Zweiten Weltkrieg verwüstet wurde, gerne eine schmerzhafte Lektion erteilen möchte", meint der Außenpolitik-Experte Brands.
Solidarität mit Taiwan
Der Ärger von Peking entzündete sich zuletzt an Japans deutlich geäußerter Bereitschaft, die De-facto-Unabhängigkeit Taiwans zu verteidigen. "Ein chinesischer Angriff auf Taiwan wäre eine Katastrophe für Japan und sein Bündnis mit den USA", warnte Ex-Premier Abe in dieser Woche im Interview mit der Wirtschaftszeitung "Nikkei". Eine Invasion könnte die Bedingungen für den Einsatz militärischer Gewalt durch Tokio erfüllen, deutete Abe an. Am Mittwoch bekräftigte er bei einer per Video übertragenen Rede auf der Konferenz einer taiwanischen Denkfabrik seinen Standpunkt: Ein Notfall auf Taiwan würde als Notfall für die amerikanisch-japanische Allianz angesehen.
Abe warnte zudem China vor den Konsequenzen eines Angriffs. "Ein militärisches Abenteuer ist der Weg zum wirtschaftlichen Selbstmord", sagte der Politiker, der nach seinem Rücktritt im September 2020 weiterhin über maßgeblichen Einfluss in der Regierungspartei LDP verfügt. Dabei würde auch China wegen der engen Verbindung zur Weltwirtschaft schwer geschädigt werden. Das Pekinger Außenministerium reagierte sofort und bestellte den japanischen Botschafter ein. Vizeaußenministerin Hua Chunying wies die Aussagen von Abe als einen "brutalen Eingriff" in Chinas innere Angelegenheiten zurück. Japan sollte die "Entschlossenheit und Stärke des chinesischen Volkes nicht unterschätzen", erklärte Hua.