Wissler: Entwicklungshilfe in Afghanistan fortsetzen
21. August 2021Deutschland war bislang nach den USA das zweitgrößte Geberland für Entwicklungshilfe in Afghanistan. In kein Land flossen in den vergangenen 20 Jahren mehr Mittel aus dem Haushalt des zuständigen Ministeriums. Im laufenden Jahr waren neben 375 Millionen Euro für die staatliche Entwicklungszusammenarbeit weitere 75 Millionen Euro für zivile Projekte vorgesehen.
Nach der Machtübernahme durch die Taliban hat das Entwicklungsministerium die Mittel eingefroren. Lediglich humanitäre Hilfe soll geleistet werden. Dafür wurden jetzt weitere 100 Millionen Euro bereitgestellt.
Für Janine Wissler, Spitzenkandidatin der Linken für die Bundestagswahl im September, ist die Entscheidung des Entwicklungsministers falsch. "Ich bin dagegen, jetzt zu sagen, man stellt komplett die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit ein", sagt sie im DW-Interview. "Es geht um die Menschen, die jetzt unter den Taliban leiden, die aber eben auch unter der furchtbaren humanitären Situation im Land leiden."
Welthungerhilfe, Caritas, Misereor - wer kann bleiben?
Es müsse zunächst abgewartet werden, wie viele internationale Organisationen in Afghanistan bleiben und wie viele weiterarbeiten könnten. "Die Situation ist ganz offen und ich bin dagegen, dass man jetzt komplett alles kappt", so Wissler im Gespräch mit der Leiterin des DW-Hauptstadtstudios, Rosalia Romaniec, und DW-Reporter Chiponda Chimbelu.
Die Linken-Chefin kritisiert zudem die in ihren Augen viel zu spät angelaufenen Evakuierungen aus Afghanistan. "Das hätte man machen müssen, bevor man aus Afghanistan abgezogen ist. Und das ist, finde ich, schon ein schäbiger Umgang mit den Ortskräften, dass man 65.000 Liter Bier ausfliegt, aber die Menschen, die für die Bundeswehr und für andere deutsche Institutionen gearbeitet haben, die Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen, dass man die dort im Stich lässt."
Bundesregierung hat sich "unwürdig" verhalten
Die Linke mache sich seit fünf Jahren dafür im Bundestag stark, Menschen, die für die Deutschen in Afghanistan gearbeitet haben, zu schützen. "Im Juni gab es eine Abstimmung dazu. Da haben nur Grüne und Linke für die Evakuierung der Ortskräfte gestimmt und alle anderen nicht zugestimmt." Stattdessen hielt Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bis zuletzt an Abschiebungen nach Afghanistan fest und das Auswärtige Amt lieferte Lageberichte, die sich im Nachhinein als falsch entpuppten.
Wie die Bundesregierung sich verhalten habe, sei "unwürdig" gewesen, kritisiert Wissler. "Das hat Menschenleben gefährdet, und die Bundesregierung in ihrer Gänze - damit meine ich auch die Kanzlerin, auch den Vizekanzler - die tragen alle die Verantwortung dafür."
Wollte man eine Debatte über Migration verhindern?
Warum Außenminister Heiko Maas (SPD) und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) als Verantwortliche die Ortskräfte der Bundeswehr nicht schon vor Monaten retteten, obwohl die NATO-Kräfte abzogen, erklärt sich die Linken-Chefin so: "Meine Befürchtung ist, dass man das deshalb gemacht hat, weil man sich irgendwie über die Wahlen retten wollte. Man wollte vor der Bundestagswahl keine Debatte über Migration in Deutschland."
Faktisch müsse es jetzt darum gehen, so viele Menschen wie noch möglich auszufliegen und aufzunehmen. "Natürlich ist Deutschland als eines der reichsten Länder der Europäischen Union, als ein Land, das dieses Desaster mit zu verantworten hat, in der Verantwortung, Menschen aus Afghanistan aufzunehmen." Wissler fordert außerdem einen dauerhaften Abschiebestopp und einen "sicheren Bleibestatus".
Sind die Linken koalitionsfähig?
Auch wenn die Linkspartei in der Wählergunst derzeit nicht gut abschneidet, könnte sie bei der Regierungsbildung eine Rolle spielen. Die SPD hat in den letzten Wochen so aufgeholt, dass es möglicherweise für ein Bündnis von SPD, Grünen und Linkspartei reichen könnte. Allerdings betonte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im DW-Interview, dass er sich ausdrücklich zu Deutschlands Verantwortung im Rahmen der transatlantischen Partnerschaft der NATO bekenne.
Ein Bekenntnis, mit dem die Linkspartei Schwierigkeiten hat. Sie würde die NATO am liebsten abschaffen und hat im Bundestag noch nie einem Auslandseinsatz der Bundeswehr zugestimmt. Auch nicht dem in Afghanistan. "Die Linke hat immer gegen diesen Kriegseinsatz gestimmt. Nach 20 Jahren Krieg in Afghanistan, nach 20 Jahren Einsatz der Bundeswehr, nach Zehntausenden von Toten ist dieses Land leider nicht friedlicher geworden, nicht sicherer geworden, sondern ganz im Gegenteil - wir erleben ein Desaster."
Die Linke will auf Kurs bleiben
Wissler macht deutlich, dass die Linke bei ihren außen- und sicherheitspolitischen Forderungen keine Abstriche machen will. "Nach dem Desaster, was wir gerade erleben in Afghanistan, finde ich, gibt es eine Partei, die jetzt relativ wenig Grund hat, ihre außenpolitischen Positionen zu überdenken und das ist die Partei Die Linke."
Das gilt auch für ihre Einstellung zur NATO. Es sei auch falsch gewesen, dass sich die NATO nach Osten erweitert habe. "Es wäre richtiger gewesen, nach der Auflösung des Warschauer Pakts und nach dem Ende des Kalten Krieges insgesamt zu schauen: Können wir nicht eine andere internationale Sicherheitsarchitektur hinbekommen, die eben auch Russland mit einschließt? Das wäre sinnvoller gewesen."
Waffenlieferungen einstellen
Die Linke sei nicht der Meinung, dass man sich international aus allem herauszuhalten habe. Aber: "Wir sind der Meinung, dass Krieg, dass Waffen, dass Militär nicht zu mehr Frieden und Menschenrechten und Demokratie beiträgt." Stattdessen müsse man auf "eine gerechte Weltwirtschaftsordnung setzen", den Hunger in der Welt bekämpfen und dürfe Diktatoren nicht unterstützen.
"Ich würde sagen, es wäre ein großer Beitrag zur internationalen Verantwortung, wenn man Regime wie Saudi-Arabien bis vor kurzem, Katar oder Ägypten nicht mit Waffen beliefert. Das wäre doch ein Beitrag dazu, die Welt friedlicher zu machen."