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"Wir haben das Recht, keine Helden zu sein"

Silke Bartlick spe/ad
28. Juni 2018

Ivana Sajko und Alida Bremer werden mit dem 10. Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet. Im DW-Interview erzählt Sajko von ihrer Liebe zur kroatischen Sprache und von Schwäche.

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Kroatischen Autorin Ivana Sajko
Bild: Hassan Abdelghani

Deutsche Welle: "Liebesroman" – in der Begründung der Jury heißt es: "Der Roman spricht über eine Welt in Agonie, darüber, wie das politische Leben auf das Private übergreift, es unter Druck setzt und das private Leben schleichend vergiftet." Das Buch spielt in Kroatien. Könnte das, was seinen Protagonisten passiert, überall geschehen?

Ivana Sajko: Der Roman spielt in Kroatien, obwohl ich das nicht genau präzisiert habe. Eigentlich könnte das überall sein. Aber natürlich habe ich einige Ereignisse mit einbezogen, von denen ich wusste, dass sie in Zagreb passiert sind, und versucht, sie universell zu machen. Ich habe versucht, über die Veränderungen zu sprechen, die im Privatleben von Menschen passieren und sozusagen von wirtschaftlichen Veränderungen und sozialer Unsicherheit ausgelöst wurden. Ich dachte, es sei sehr, sehr wichtig über die Ereignisse aus einer kleineren Perspektive zu sprechen, von dem, was innerhalb von Mauern passiert. Und ich denke, dass das nicht nur typisch für Kroatien ist. Es könnte auch eine deutsche Familie sein.

Buchcover Liebesroman Ivana Sajko
Bild: Voland & Quist

Ist das, was Ihren Protagonisten geschieht, in gewisser Weise das Ergebnis der kapitalistischen Verhältnisse?

Ja, aber ich denke, dass das nicht nur das Resultat von Kapitalismus ist. Es ist das Resultat einer statischen Gesellschaft. Und davon, wie wir als Bürger uns nicht gut genug um Dinge kümmern, die uns betreffen. Anstatt uns um Solidarität und Zusammenleben zu bemühen, leben wir immer mehr in kleinen Familienzirkeln und kümmern uns nur um unser eigenes Wohlergehen, aber nicht um das unserer Nachbarn und auch nicht um unsere Städte oder Staaten.

Haben wir in Europa vergessen, was Solidarität ist?

Wir haben komplett vergessen, was Solidarität bedeutet. Ich wuchs im sozialistischen Jugoslawien auf. Als Kinder im Literaturunterricht bekamen wir immer die gleichen Themen, über die wir schreiben sollten. Es war jedes Jahr das Gleiche. Die Themen waren Brüderlichkeit und wie man die zerbrochenen Brücken zu Solidarität und Einigkeit wieder aufbauen sollte. In ganz Jugoslawien bekamen die Kinder immer die gleichen Themen. Also gab es jedes Jahr einen Konkurrenzkampf: Wer schreibt den besten Aufsatz über das Thema? Das war natürlich ein bisschen komisch, aber auf der anderen Seite war das ein Wettbewerb darüber, wie wir uns die Welt, in der Menschen zusammenleben, vorstellten. Ich denke, das ist eine schöne Idee. Wir sollten vielleicht ein paar Schritte zurückgehen und, ja, an ein paar andere Sachen denken, die uns wieder zusammenbringen könnten, weil die Situation sehr ernst ist.

Ich wurde gefragt, wie privat oder emotional "Liebesroman" ist und was das Werk mit Politik oder der Gesellschaft zu tun haben soll. Dann dachte ich - lasst uns Deutschland als Beispiel nehmen. Es ist ja an sich ein recht reiches Land, aber trotzdem haben die Wahlen gezeigt, dass viele Menschen nicht zufrieden sind. Und das ist ein emotionaler Punkt. An der Oberfläche ist alles gut, aber irgendwo im tiefen Inneren sind viele Menschen nicht zufrieden. Das zeigt, dass Emotionen und Ängste Teil der Politik sind.

Die Figuren Ihres Romans haben eine spürbar aggressive Energie. Wird man so, wenn man mit der Welt zusammenstößt?       

Die Charaktere im Roman sind sehr frustriert und können die Probleme nicht lösen. Die Gesellschaft bringt eine Art Frustration hervor, die die innere Struktur der Menschen generiert und verändert. Das bedeutet, dass die Menschen am Ende der Geschichte nicht mehr dieselben sind wie am Anfang ihrer Liebesgeschichte. Wenn man keinen guten Job bekommen kann, wenn man nicht durch ein normales Leben für die Familie sorgen kann, beeinflusst das etwas im Charakter der Menschen, bewirkt etwas, was nicht gut ist.

Ihre Protagonisten – sie ist eine Schauspielerin, er ein Schriftsteller – sind mittelmäßig begabt. Sie sind nicht die Besten. Ist das ihr Problem?

Wir haben das Recht, keine großen Helden zu sein. Warum sollten wir? Wir haben das Recht, verletzt oder schwach zu sein. Das ist das, worum wir kämpfen, eine Gesellschaft, in der auch schwache Menschen ein gutes Leben führen können. Deshalb denke ich, dass sie es verdient haben, die Helden dieses Buches zu sein.

Die Sprache des Buches ist atemlos, nahezu herausgeschleudert. Birgt sie Ihre eigene Wut?

Sprache ist ein bedeutsames Element in meiner Arbeit. Und man könnte sagen, dass dies ein eher kurzer Roman ist, wenn man ihn nur als Prosa betrachtet. Wenn man ihn aber als ein poetisches Werk liest, dann ist es ein großes. Und das ist, was ich wirklich mache. Ich nehme an, dass diese Art von Arbeit aus meiner Theatererfahrung stammt, da ich Theaterautorin bin und viel in Deutschland gearbeitet habe, wo ich seit 17 Jahren mit dem Verlag der Autoren zusammenarbeite. Und wie Sie wissen, ist im Theater das gesprochene Wort sehr wichtig. Und da ich viel mit Musikern arbeite, habe ich versucht, eine musikalische Qualität in die Sprache zu bringen. Und ich dachte, dass in dieser Art von Roman, wo die Beziehung zwischen zwei Menschen auf Missverständnissen beruht, die Sprache sehr stark sein muss, dass sie einen Rhythmus haben muss, der nicht gestoppt werden kann. Kroatisch ist dafür wunderbar geeignet: Es hat sieben Fälle, grammatische Geschlechter, es lässt sich deshalb sehr gut modulieren. 

Deutschland BdT Haus der Kulturen der Welt
Der 10. Internationale Literaturpreis wird vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin vergebenBild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Und natürlich arbeite ich auch mit meiner Übersetzerin Alida Bremer schon seit 17 Jahren zusammen. Sie kennt meine Aufführungen, sie sah mich häufig. Beim Übersetzen liest sie ihre letzte Fassung laut vor. Deshalb muss meine Sprache fließen, sie muss beweglich sein. Und sehr präzise.

Das Paar im Roman findet sich am Meer, und seine offene Geschichte endet am Meer. Was bedeutet das Meer für Sie?

Das Meer bedeutet mir alles. Ich habe den größten Teil meines Lebens am Meer verbracht. Nicht, weil ich dort geboren wurde und ein Teil meiner Familie aus Dalmatien und mein Großvater aus einer Matrosenfamilie stammt. Aber als ich aufwuchs und als Teenager, als der Krieg begann, hatte ich das Gefühl, dass Kroatien ein komplett geschlossenes Land wäre, wie eine kleine Zelle - und das auf vielen Ebenen. Doch das Meer gab diesem Land soviel Raum. Und das Leben am Meer war nie mit lokaler Politik oder der Nationalität von Kroatien verbunden, es hatte eine komplett andere Qualität. Sogar wenn ich jetzt an Kroatien denke und überlege, was ich vermisse, weil ich ja nicht mehr dort lebe, dann denke ich an das Meer.

Sie sind zunächst für ein Jahr als DAAD-Stipendiatin nach Berlin gekommen, haben aber dann beschlossen, länger zu bleiben. Warum?

Ich hatte immer Beziehungen zu Deutschland. Meine Theaterstücke wurden in deutschen Theatern aufgeführt. Und seit 17 Jahren habe ich natürlich eine Verbindung mit meiner Übersetzerin. Während meines DAAD-Jahres war mein Sohn bei mir. Als das Jahr vorüber war, war sein Deutsch recht gut geworden. Ich fand, dass wir zwar nach Kroatien zurückgehen könnten, dass es aber keinen besonderen Grund gab, dies auch zu tun. Die Distanz half mir auch, klarer zu sehen, was in Kroatien passierte, wie auch zu sehen, was ich wirklich tun wollte. Aufgrund der politischen Ereignisse dort hatte ich nicht viel Raum, um in Kroatien zu arbeiten.

Was genau mögen Sie an Berlin?

Ich kam 1997 zum ersten Mal nach Berlin. Das war die erste große Stadt, in der ich nach dem Krieg war. Ich war sehr jung und völlig überwältigt von dem, was ich hier sah und erlebte. Über all die Jahre hinweg konnte ich beobachten, wie sich die Stadt veränderte. Und natürlich wuchs ich mit deutscher Literatur und deutschem Theater auf. Also war mir das alles vertraut, mit Ausnahme der Sprache, die ich immer noch nicht gut spreche.

Aber dann verliebte ich mich in diesen Mythos von Berlin als einer offenen Stadt. Es ist so schön, dass es in Europa zumindest eine Stadt gibt, in der man sich nicht als Fremder fühlt. Und, wie viele meiner Kollegen in meiner Heimatstadt Zagreb habe ich das Gefühl, dass wir immer so viel von uns geben und dann wird alles wieder zerstört. Wir versuchten immer, etwas zu erfinden und zu organisieren. Aber letzten Endes wurde immer und immer wieder alles zerstört. Jetzt fühle ich mich zu alt, immer nur zu geben und aufzubauen – und nichts passiert. Ich will in einer Gesellschaft leben, in der man etwas von sich gibt und sich bemüht und am Ende davon dann auch etwas bleibt. Und ich denke, dass Berlin immer noch ein solcher Ort ist.

Der Internationale Lietraturpreis, ein "Preis für übersetzte Gegenwartsliteraturen", wird im Rahmen eines Festes mit allen Shortlistkandidaten am Donnerstag, 28.06.2018, im Haus der Kulturen der Welt in Berlin verliehen. 

Das Gespräch führte Silke Bartlick.