Italiens Ausstiegsplan: zu wenig, zu spät?
13. Mai 2020Mehr als zwei Monate lang war die römische Morgenluft vor allem vom lieblichen Gezwitscher der Vögel erfüllt. Am ersten Montag im Mai war damit Schluss: Der dröhnende Verkehrslärm der italienischen Hauptstadt war das untrügliche Signal, dass die landesweite Ausgangssperre beendet war. Auch in anderen Städten haben Autos, Lastwagen und Roller die Straßen zurückerobert und künden von Italiens "Phase 2".
Die ersten Lockerungen sehen vor, dass Restaurants und Cafés wieder Lebensmittel zum Mitnehmen anbieten dürfen. Fast fünf Millionen Berufstätige, die ihre Arbeit im März niedergelegt haben, sollen diese wieder aufnehmen.
Frauen und Kinder nicht berücksichtigt
Das sogenannte Dekret zur Wiederbelebung stellte Ministerpräsident Giuseppe Conte in Rom vor. Mit 55 Milliarden Euro will die Regierung die Auswirkungen der Coronaviruskrise, die Schäden durch das Herunterfahren der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens Abmildern.
Doch schon vorher war der Inhalt an die italienische Presse durchgesickert. Die allgemeine Reaktion war - Frust. Und das nicht nur, weil es erst jetzt beschlossen wurde, statt wie vorgesehen im April, weil es mehrfach Streit in der Regierungskoalition gab. Frauen sind in dem Dekret so gut wie ausgeschlossen von den Entscheidungen, obwohl mehr als dreiviertel der Pflegekräfte und die Mehrheit der Krankenhausärzte weiblich sind - ganz abgesehen von den vielen Kassiererinnen und Verkäuferinnen, die den Einzelhandel am Leben halten.
Auch Eltern, die nun zurück an die Arbeit sollen, sind aufgebracht über die mangelnde Unterstützung: Die Schulen sollen bis September geschlossen bleiben, gleichzeitig aber werden keine ausreichenden Betreuungsalternativen angeboten.
Undurchsichtige Öffnungsregeln
Restaurants und Cafés müssen weiterhin mit Umsatzeinbußen rechnen. Allein wegen der Abstandsregelung dürften 60 Prozent des Geschäfts wegfallen, sagte der Branchenverband vor der offiziellen Bekanntgabe der Pläne: "Wir waren seit Wochen bereit, über mehr Tische im Freien, Schutzbekleidung für das Personal, sinnvolle Abstände und sogar Trennwände zwischen den Tischen zu diskutieren", sagt Aldo Cursano, Vizepräsident des italienischen Gaststättenverbandes FIPE. "Aber die Regierung kann nicht verlangen, dass wir jedem Gast vier Quadratmeter reservieren. Dann haben wir Restaurants mit nur einem Tisch."
Auch Kunsthandwerker sind aufgebracht über den Mangel an klaren Regeln für den Betrieb ihrer meist winzigen Geschäfte. Buntglaskünstler Paolo betreibt einen Ein-Mann-Betrieb in einer umgebauten Garage. Er sagt, er habe die Anweisung der Regierung, dass er keine Kunden empfangen durfte, verstanden. Aber er sei perplex, dass die Fahrradwerkstatt in der Straße es nicht musste: "In den vergangenen zwei Monaten habe ich 600 Euro Unterstützung von der Regierung erhalten", erzählt er. "Wenn ich noch einmal schließen muss, ist das endgültig."
Auch der Gemüsehändler ein paar Häuser weiter musste nicht schließen. Während der Ausgangssperre belieferte der Familienbetrieb mehr als 100 Haushalte mit Waren, statt wie sonst ein paar Dutzend. "Ich bin völlig geschafft", sagt der 65-jährige Eigentümer Angelo am Ende eines langen Arbeitstags, während er mit seinen zwei Angestellten Töpfe mit Rosmarin, Thymian und Basilikum von der Auslage vor dem Laden einsammelt.
Die zweite Welle wird kommen
Die Italiener haben sich zum allergrößten Teil strikt an die Regeln zur - wie Premier Giuseppe Conte es nennt - Koexistenz mit dem Virus gehalten. Dennoch, sagt Mattei Villa, sei der Wiederanstieg der Infektionsrate nur eine Frage des Wenn, nicht des Ob. Villa hat am Institut für Internationale Politikstudien in Mailand die Ausbreitung des Virus erforscht: "Ich mache mir keine Illusionen, es geht nur um die Geschwindigkeit, mit der das Virus zurückkommt." Abstandsregeln einzuhalten sei entscheidend, sagt er, vor allem in den mittleren und südlichen Regionen, die das Virus bisher am wenigsten getroffen hat.
Norditalien, vor allem die Lombardei, hat bereits erlebt, wie Krankenwagen Tag und Nacht durch die Städte brausen, das Gesundheitssystem kollabiert und Angehörige und Freunde sterben. Der Rest Italiens hat dieses Trauma bisher nur indirekt mit bekommen. "Meine Angst ist, dass sie deshalb weniger vorsichtig sind in Phase 2", sagt Villa.
Erst der Weltkrieg, dann Corona
In Italien sind bisher 30.000 Menschen an der Pandemie gestorben. Ich bin froh, dass meine Schwiegermutter nicht unter ihnen war. Sie lebt allein in ihrer Wohnung in einer 500 Jahre alten Stadtvilla in Florenz. Die Einsamkeit während der Ausgangssperre hat ihr schwer zu schaffen gemacht. Ende April hielt sie es nicht mehr aus: Trotz des Risikos legte sie sich eine Atemmaske und Handschuhe an und machte sich auf zum Einkaufen.
Aber wie viele andere hat sie auch positive Überraschungen erlebt. Nachdem sie ihren Nachbarn von gegenüber 30 Jahre lang geflissentlich ignoriert hatte, sprechen sie mittlerweile täglich miteinander. Wenn er sie einen Tag nicht sieht, ruft er an. Und sie stellt ihm gelegentlich einen Topf mit Fleischklößen oder einen Auberginenauflauf vor die Tür.
Sie sagt immer wieder, sie hätte gedacht, dass der Zweite Weltkrieg, dessen Bombardements sie mit ihrer Familie in Höhlen nördlich von Rom überlebt hat, die Katastrophe ihres Lebens gewesen wäre. Mit einer zweiten habe sie nicht gerechnet. Und sie ist getroffen von dem jeweils einzigartigen, überwältigenden Gefühl, die jedes der beiden Ereignisse in ihr erzeugt hat. "Vom Krieg erinnere ich vor allem die Dunkelheit: Lichter aus und Fenster zu, um die Bomber nicht anzulocken", erzählt sie. "Von dieser Pandemie werde ich vor allem die Stille im Gedächtnis behalten: Selbst bei offenem Fenster hörte man kein Auto, kein Flugzeug, keine Stimmen."
Der aufkommende Lärm unten auf der Straße erfüllt sie dennoch nicht mit Hoffnung: "Es ist ein Gefühl der Ungewissheit", sagt sie und drückt damit die dunkle Vorahnung vieler Italiener aus, dass das Schlimmste noch kommen könnte.
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