Nach dem Lockdown - Europa öffnet
11. Mai 2020Ungeordnet und ohne miteinander zu sprechen haben die Länder Europas nacheinander alle möglichen Einschränkungen verhängt, um die Corona-Pandemie in den Griff zu kriegen. "Sie sind chaotisch hineingegangen in den Lockdown. Und es sieht so aus, als ob sie genauso chaotisch wieder herausgehen", beobachtet Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre in Brüssel. "Einen Willen zur Koordination gibt es auf europäischer Ebene nicht. Jeder beobachtet eher, was die anderen machen."
Italien - Endlich wieder Espresso
Was hat den Italienern am meisten gefehlt in den zwei Monaten ihrer strengen Isolierung zu Hause? Der Espresso in der Bar um die Ecke, so glaubt wohl die Regierung. Den gibt es jetzt im Wegwerfbecher, draußen vor der Tür, ohne Schwätzchen mit dem Barista an der Theke. Nach Großbritannien beklagt Italien die meisten Corona-Toten in Europa und entsprechend vorsichtig ist der Weg aus dem Lockdown.
Die meisten Geschäfte - außer Lebensmittelläden - bleiben noch bis Mitte des Monats geschlossen, Friseure müssen sogar bis Juni warten. Dagegen sind die Parks wieder geöffnet und viele Industriebetriebe nehmen die Arbeit auf. Rund ein Fünftel aller Beschäftigten, so wird geschätzt, kehrt in den Job zurück.
Besuchen dürfen die Italiener nur ihre Nächsten - aber wer das ist, können sie weitgehend selbst entscheiden. Sie dürfen auch wieder in Nachbarorte fahren, nicht jedoch ihre Region verlassen. Denn der Süden ist in Italien weitgehend Corona-frei, die Ansteckungsgefahr lauert vor allem im Norden.
Das Land ist gefangen zwischen der Angst vor weiteren Infektionswellen und dem völligen ökonomischen Zusammenbruch. Die Wirtschaftsleistung wird voraussichtlich um über neun Prozent fallen. Unklar ist dabei, ob Italien noch in diesem Jahr wieder Touristen ins Land lassen kann. Die Museen bleiben vorerst geschlossen und Restaurants im Norden können Essen nur zum Mitnehmen anbieten. Im Süden dagegen darf schon wieder draußen gegessen werden.
Der Weg aus dem Lockdown ist für Premier Giuseppe Conte auch politisch gefährlich. Seine jüngsten Maßnahmen werden als wenig klar und überzeugend betrachtet. Einziger Lichtblick für ihn: Die Umfragewerte für Matteo Salvini, den Chef der populistischen Lega, sind während der Krise deutlich gesunken.
Spanien - Raus in die Sonne
Kinder in Spanien dürfen endlich wieder raus, nachdem sie sechs Wochen strengster Isolierung in den Wohnungen überstanden haben. Die meisten Parks sind wieder geöffnet und die Spanier können joggen und Rad fahren. Allerdings weiterhin nur zu bestimmten Zeiten.
Die Regierung hat vier Phasen der Normalisierung bis Ende Juni angekündigt, die jeweils rund zwei Wochen dauern sollen. So gibt es gibt keine festen Daten für die Wiedereröffnung von Bars und Restaurants, sondern Kriterien, die regional erfüllt werden müssen. Entscheidend sind die Zahl der Neuansteckungen, Tests für alle Verdachtsfälle und die Feststellung der Kontaktpersonen. Die 17 Regionen in Spanien werden die Einschränkungen also unterschiedlich schnell aufheben.
Im öffentlichen Nahverkehr und in Gebäuden müssen alle Menschen Masken tragen und die Hälfte der Sitze in Bussen und Bahnen leer lassen. Friseure, Buchläden und Werkstätten dürfen sehr eingeschränkt wieder öffnen. Fahrten innerhalb des Landes bleiben weiter begrenzt, aber Restaurant-Terrassen können - mit der Hälfte der Plätze - wieder öffnen. Erst im Juni dürfen die meisten Läden wieder Kunden einlassen. Die Schulen dagegen sollen bis September überall geschlossen bleiben.
Auf einigen Stränden ist Sport bereits wieder erlaubt - auch Spanien überlegt, ob und wie man von der Tourismussaison 2020 noch etwas retten kann. Fällt diese Einnahmequelle ganz aus, kann die drohende Rezession noch tiefer ausfallen als vorhergesagt.
Die Regierung Pedro Sanchez musste während der Corona-Krise ständig mit den Oppositionsparteien kämpfen. So griff die rechte Vox-Partei die Schließung des Landes als zu weitgehend an und warnt vor einer ökonomischen Katastrophe. Wie und ob der Premier mit seiner wackeligen Koalition und Minderheitsregierung die Folgen der Krise überlebt, ist ungewiss.
Dänemark, Norwegen, Niederlande - Glückliche Nordlichter
Norwegen öffnet als erstes Land in Europa ab 11. Mai wieder alle Schulen. Auch Läden kehren zurück zum Normalbetrieb, nur Restaurants und Bars müssen noch bis Anfang Juni warten und die Zahl ihrer Besucher beschränken. Bis zu 200 Menschen dürfen dann auch wieder an Konzerten und Veranstaltungen teilnehmen. Mitte Juni will Premierministerin Erna Solberg das gesamte öffentliche Leben wieder in Gang gesetzt haben.
Auch in Dänemark geht die Rückkehr Richtung Normalität schnell. Restaurants und Cafés dürfen jetzt in der zweiten Phase wieder öffnen, die Kinder kehren schrittweise in die Schulen zurück. Büchereien und Kirchen können Mitte des Monats den Betrieb aufnehmen, Theater und Kinos sollen Anfang Juni folgen.
Beide Länder haben schnell auf die ersten Corona-Infektionen reagiert und stehen mit relativ wenigen Todesfällen in der europäischen Bilanz gut da. Ende April sagte die dänische Premierministerin Mette Frederiksen, die Pandemie sei unter Kontrolle.
Die Niederlande setzten auf eine Politik des "intelligenten Lockdown". So blieben Spaziergänge erlaubt und viele Läden geöffnet. Die Regierung appellierte an die Vernunft der Bürger und die Wirksamkeit sozialer Distanz. Jetzt beginnt die Rückkehr in den Alltag - die Schulen nehmen im Schichtbetrieb den Unterricht wieder auf und Beschäftigte gehen zurück an den Arbeitsplatz. Wirtschaftlicher Schaden entstand etwa im Speditionsgewerbe oder durch den Einbruch der Blumenindustrie, in der Millionen von Tulpen vernichtet wurden. Aber die Regierung von Mark Rutte in Den Haag hofft auf eine schnelle Erholung.
Frankreich - Rettet Wein und Käse!
Die traditionellen Käseproduzenten des Landes rufen um Hilfe: Ihr Absatz ist während der Corona-Krise um 60 Prozent eingebrochen, weil viele Franzosen in den Supermärkten nur noch Billigware kauften und die Restaurants geschlossen sind. Jetzt droht Tausenden feinen Käsen die Vernichtung und Familienbetrieben der Untergang. Ähnlich dramatische Folgen fürchten französische Winzer: Ein Niedergang der Exporte und des Konsums bedroht ihre Existenz. Es wird bereits vorgeschlagen, Wein zu Industriealkohol für Desinfektionsmittel zu verarbeiten.
Die Polizei in Frankreich hat dagegen seit Mitte März ein paar Millionen Euro an Strafgeldern kassiert - die Regeln zur Isolierung waren besonders streng und bürokratisch. Von diesem 11. Mai an dürfen sich die Bürger endlich wieder frei bis zu hundert Kilometern im Umkreis ihrer Wohnung bewegen. Baumärkte, Gärtnereien und andere Läden öffnen, Bars und Restaurants aber bleiben weiter geschlossen, ohne konkrete Hoffnung auf baldige Kunden. Was von der Gastronomie des Landes übrig bleibt, ist ungewiss. Sämtliche Kulturfestivals und Fußballspiele sind für den Sommer abgesagt.
Obwohl die Corona-Erkrankungen im Großraum Paris und im Osten des Landes konzentriert waren, galten die gleichen harten Regeln überall. So brachte die Regierung die Wirtschaft im ganzen Land zum völligen Stillstand, was zu einem tiefen Einbruch und einem steilen Anstieg der Staatsschulden führt. Präsident Emmanuel Macron gibt Milliarden Euro für Kurzarbeit und Hilfen für Unternehmen aus - allein die Fluggesellschaft Air France muss mit sieben Milliarden Euro gerettet werden, auch die Autoindustrie braucht riesige finanzielle Unterstützung.
Vielleicht hätte Frankreich mit einer intelligenten Politik der Isolierung den wirtschaftlichen Schaden geringer halten können. Aber Paris reagierte zentralistisch und autoritär. Beim Wiederauftauchen aus der Krise bekommen nun aber die Regionen mehr Handlungsspielraum. Die Bürgermeister an der Atlantikküste wollen jetzt als erste ihre Strände öffnen, selbst wenn die Grenzen des Landes noch bis Mitte Juni geschlossen bleiben sollen.