Ist die Corona-Inzidenz noch aussagekräftig?
21. August 2021Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz geht seit Beginn der Pandemie rauf und runter. Die Zahl sagt aus, wie viele Menschen in sieben Tagen positiv auf eine Infektion mit SARS-CoV-2- getestet wurden, bezogen auf 100.000 Einwohner.
Erstmals seit Mai stieg die Inzidenz in Deutschland nun wieder auf einen Wert über 50 - das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Samstagmorgen den Wert 51,6. Doch auch die Impfquote wächst kontinuierlich, zuletzt waren 58,5 Prozent der Menschen in Deutschland vollständig geimpft (Stand: 20.08.2021). Ist die Inzidenz also überhaupt noch ein sinnvoller Orientierungswert für Maßnahmen und Restriktionen?
Was bedeutet die Inzidenz in Deutschland?
Je nach Inzidenz werden Maßnahmen eingeleitet, um die Pandemie zu bekämpfen. Bisher wurden je nach Inzidenzlage beispielsweise Schulen oder Gastronomie geschlossen oder auch Kontakte eingeschränkt. Seit dem 23. August gilt bundesweit die 3G-Regel - ab einem anhaltenden Inzidenzwert über 35 dürfen dann nur noch geimpfte, genesene oder getestete Menschen an bestimmten gesellschaftlichen Aktionen teilnehmen - beispielsweise Pflegeheime besuchen, die Innengastronomie besuchen oder zum Friseur gehen.
Warum steigt die Inzidenz trotz hoher Impfquote?
Israel galt schnell als Vorreiter in Sachen Impfung. Mittlerweile sind dort fast 70 Prozent einmal geimpft, knapp 63 Prozent vollständig. Die Infektionszahlen steigen aber auch hier rasant an. Zuletzt wurden in Israel 8413 neue Corona-Infektionen (Stand 19.08.2021) gemeldet.
Die Anzahl der Menschen, die weltweit noch nicht geimpft ist, sei noch relativ hoch, erklärt Berit Lange, Leiterin der Klinischen Epidemiologie in der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Auch Varianten wie Delta führten mit ihrer erhöhten Übertragbarkeit zu mehr Infektionen, so Lange im DW-Interview.
Um das Infektionsgeschehen wirklich kontrollieren und eindämmen zu können, bedarf es laut Robert-Koch-Institut einer sehr hohen Impfquote. Mindestens 85 Prozent der 12- bis 59-Jährigen und 90 Prozent der über 60-Jährigen müssten vollständig geimpft sein, um die Corona-Lage allein in Deutschland kontrollieren zu können - vor allem auch im Hinblick auf die Virusvariante Delta. In Kombination mit Hygiene-Maßnahmen und einem leicht reduzierten Kontaktverhaltens sollte es dann im Herbst/Winter nicht zu einem starken Anstieg der Intensivbettenbelegung mit Corona-Patienten kommen, heißt es in dem RKI-Bericht von Juli.
Keiner der bisher zugelassenen Impfstoffe schützt hundertprozentig vor einer Corona-Infektion - das zeigen Studien schon seit Einführung der Impfungen. Gerade Geimpfte mit Vorerkrankungen können sich, wenn auch mit einem geringen Risiko, möglicherweise anstecken.
"Wer vollständig geimpft ist, ist wirksam gegen einen schweren Verlauf der Corona-Infektion geschützt", betont Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), im DW-Interview. In Deutschland gebe es kaum Intensivpatienten, die vollständig geimpft seien.
Impfungen schützen vollständig geimpfte Personen also weiterhin vor einem schweren Verlauf, nur selten kommt es bei ihnen zu schweren Verläufen oder zu Todesfällen. Eine hohe Inzidenz bedeutet also nicht gleichzeitig, dass auch viele Menschen schwer erkranken.
Dennoch zeigen Studienergebnisse aus Großbritannien, dass die Wirkung der Impfstoffe nach einer gewissen Zeit nachlassen. Darauf weisen auch die Hersteller der BioNTech/Pfizer-Impfstoffs in einer Pressemitteilung hin. Die ersten Impfungen in Israel waren schon im Dezember vergangenen Jahres verabreicht worden. Deswegen finden in Ländern wie Israel und Deutschland auch schon Drittimpfungen für besonders vulnerable Gruppen wie beispielsweise Menschen mit Vorerkrankungen statt.
Wer steckt sich mit Corona an?
Laut dem aktuellen Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts (Stand 19.08.2021) beginnt in Deutschland gerade die vierte Welle. Seit einigen Wochen stecken sich immer mehr jüngere Menschen mit dem Coronavirus an - das mediane Durchschnittsalter liegt seit fünf Wochen bei etwa 27 bis 28 Jahren. Der Altersmedian der hospitalisierten Fälle liegt bei 48 Jahren - zu Jahresbeginn hatte er noch bei 77 Jahren gelegen.
Das hat auch damit zu tun, dass mehr ältere Menschen geimpft sind. Von den über 60-Jährigen sind rund 83 Prozent vollständig geimpft, von den unter 60-jährigen Erwachsenen rund 60 Prozent. Kinder und Jugendliche von zwölf bis 17 Jahren sind lediglich zu etwa 16 Prozent vollständig geimpft.
Noch ein sinnvoller Orientierungswert?
Die Inzidenz sollte als Orientierungswert nicht verworfen werden - da sind sich die befragten Experten einig. "Der Inzidenzwert liefert einen frühen Eindruck dazu, welche Dynamik die Epidemie gerade hat", erklärt Epidemologin Lange. Zusätzlich sollte man auch auf den R-Wert, die Krankenhausaufnahmen, die Neuaufnahmen auf den Intensivstationen und die Auslastung der Intensivbetten mit COVID-19-Patienten beachten, sagen Lange, Marx und auch der Physiker Andreas Schuppert von der RWTH Aachen im DW-Interview.
Schupperts aktuelle Modellstudie zeigt, dass die Intensivbettenauslastung proportional zur Inzidenz verläuft. Er bestätigt: "In den letzten Wochen konnte man klar sehen, dass die schweren Erkrankungen, also die Intensivaufnahmen, immer noch an die Inzidenz gekoppelt waren. Glücklicherweise aber nicht mehr so stark wie in der zweiten und dritten Welle." Auch er sagt, dass man die Inzidenz nicht ganz außer Acht lassen sollte, aber eben auch stärker auf Krankenhausaufnahmen und schwere Verläufe schauen sollte.