Ist der EU-Türkei-Deal zu retten?
3. Oktober 2019Die Zahl der Flüchtlinge, die versuchen, in die Europäische Union zu gelangen, steigt wieder. Vor allem für Griechenland, wo viele Flüchtlinge ankommen, ist die Lage kaum beherrschbar. Im September kamen mehr als 10.000 Flüchtlinge, die meisten aus Afghanistan und Syrien, von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen ist das die höchste Zahl in einem Monat seit mehr als drei Jahren. Lässt die Türkei mehr Flüchtlinge in die EU? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte der Europäischen Union damit gedroht, sollte die Türkei nicht mehr Geld von der EU bekommen.
Um die Probleme bei der Umsetzung des EU-Türkei-Deals zu lösen, sind der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) und der EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos in die Türkei gereist. Sie sprechen in Ankara mit dem türkischen Innenminister Süleyman Soylu und dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Die Zeit drängt, denn die Lage ist ernst. Eigentlich wollte auch der französische Innenminister Christophe Castaner mitgekommen sein. Auf Grund einer schweren Messerattacke in Paris, musste er aber kurzfristig absagen.
Nach seiner Ankunft sagte Seehofer der Türkei weitere Unterstützung zu. Die Delegation sei in die Türkei gereist, "um das Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei zu stärken. Wo immer wir unseren Beitrag leisten können ..., sind wir dazu bereit", sagte er vor den Gesprächen am Donnerstagabend. Im offenbaren Bemühen, die jüngsten Spannungen zu glätten, dankte er der türkischen Regierung ausdrücklich für ihre Rolle bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. "Ohne Eure Solidarität wäre das Migrationsproblem in unserer Region so nicht bewältigt worden", sagte der Minister an den Gastgeber, den türkischen Kollegen Süleyman Soylu, gewandt.
Katastrophale Zustände
Vor allem die griechischen Inseln sind mit der großen Anzahl von Flüchtlingen überfordert. Trauriger Tiefpunkt der zum Teil chaotischen Zustände war ein Feuer im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos am vergangenen Sonntag, bei dem eine Frau ums Leben kam und viele Menschen verletzt wurden. Das Lager ist völlig überfüllt. Gedacht für 3000 Flüchtlinge, leben dort aktuell rund viermal so viele.
Die Tragödie auf Lesbos sei vorhersehbar gewesen, sagt Gerald Knaus, der Vorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) und "Architekt" des Flüchtlingspakts mit der Türkei. „Wenn Menschen über Monate an einem Ort leben müssen ohne ausreichende Versorgung, ohne Ärzte, ohne psychische und soziale Unterstützung und ohne ausreichend Platz um sicher zu leben und human behandelt zu werden, dann werden Tragödien wie diese weiterhin passieren und der gesamte Flüchtlingspakt steht auf dem Spiel", warnt Knaus.
Hilfe für Griechenland
Die Linken-Politikerin Heike Hänsel reist häufig nach Griechenland. Sie beschreibt die derzeitige Politik als "Abschottungspolitik", die man beenden müsse: "Es braucht ein solidarisches neues Flüchtlingssystem innerhalb der Europäischen Union." Griechenland benötige mehr Hilfe von anderen EU-Mitgliedsländern. Gerald Knaus stimmt dem zu. "Im vergangenen Jahr hatte Griechenland im Verhältnis zur Einwohnerzahl nach Zypern die meisten Asylanträge in der EU. Und mit den Asyl-Entscheidungen hängt Griechenland zwei Jahre hinterher", so der Migrations-Experte.
Die griechische Regierung hat am Montag bekanntgegeben, dass sie die Grenzen besser schützen, den Asylbeantragungs-Prozess verkürzen und 10.000 Geflüchtete bis Ende des Jahres in die Türkei zurückschicken werde. Der griechische Vizeminister für Migration Giorgos Koumoutsakos erklärte, dass das Land aktuell rund 75.000 Asylanträge bearbeite.
Griechenland fehlen unter anderem Fallbearbeiter, Übersetzer und Berufungsstellen für die Bearbeitung von Asylanträgen. Auch deswegen konnten, seitdem der Flüchtlingspakt im Frühjahr 2016 in Kraft trat, nur rund 2500 Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt werden. Gerald Knaus appelliert an die Länder mit dem effektivsten Asylbearbeitungssystem (Deutschland, Frankreich, Niederlande, Schweiz, Dänemark), den griechischen Behörden unter die Arme zu greifen. Darauf solle Bundesinnenminister Horst Seehofer hinarbeiten, wenn er nach seinem Türkeibesuch am Freitagvormittag weiter nach Griechenland reist.
Streit um den Flüchtlingspakt
Das Ziel des EU-Flüchtlingspakts mit der Türkei ist, Flüchtlinge davon abzuhalten, sich von der Türkei aus auf den gefährlichen Weg in die EU zu machen. Der Pakt sieht vor, dass die Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt werden können. Umgekehrt hat sich die EU verpflichtet, syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen und die Türkei finanziell bei der Versorgung der Flüchtlinge zu unterstützen. Vereinbart waren Zahlungen von insgesamt sechs Milliarden Euro für die Jahre 2016 bis 2019.
Doch um das Finanzielle gibt es Streit. Die Türkei klagt, sie habe viel weniger Geld als vereinbart bekommen und droht damit, mehr Flüchtlinge in die EU zu lassen. Die EU entgegnet, dass die Bedingungen zur Auszahlung oft nicht gegeben seien. Denn vereinbart sei, dass das Geld nur projektbezogen gezahlt würde. Es sei nicht als Zuschuss für das Regierungsbudget gedacht.
Geht es am Ende nur ums Geld?
In der Türkei leben über 3,5 Millionen Flüchtlinge - mehr als in jedem anderen Land der Erde. Bisher hat sie 36,7 Milliarden Euro für den Umgang mit der Flüchtlingskrise ausgegeben. Die EU hat signalisiert, dass die finanzielle Hilfe auch nach 2019 erfolgen könnte.
Frank Schwabe, Fraktionssprecher für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der Sozialdemokraten (SPD), dem Juniorpartner der Regierungskoalition in Berlin, sagt, dass die meisten Flüchtlinge bis zum Kriegsende an einem sicheren Platz nahe ihren Heimatländern bleiben möchten. Die Türkei unternehme enorme Anstrengungen und die EU solle daher die Türkei weiterhin finanziell unterstützen.
Erdogans neuestes Flüchtlingsprojekt
Acht Jahre nach Beginn des Kriegs in Syrien plant der türkische Präsident Erdogan nun eine sogenannte "Sicherheitszone" in Nordsyrien. Kurz vor dem Besuch von Horst Seehofer und Dimitris Avramopoulos in der Türkei, hat Erdogan seinen Plan konkretisiert. So sollen zwei Millionen Menschen in die "Sicherheitszone" ziehen. Insgesamt 140 Dörfer sollten "mit internationaler Hilfe" in Nordsyrien gebaut werden.
ESI-Vorsitzender Gerald Knaus sieht Erdogans Projekt einer "Sicherheitszone" kritisch. "Heute ein Gebiet in Syrien militärisch zu sichern und zu garantieren, dass es in der näheren Zukunft sicher bleibt, ist mehr als die Türkei oder die EU aktuell leisten können."