Israelkritik: Wer ist Antisemit - und wer nicht?
4. August 2020Im November vergangenen Jahres postete ein ehrenamtliches Mitglied des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) auf Facebook eine Nachricht. "Der zionistische Terrorstaat" Israel vertreibe völkerrechtswidrig die Bewohner der Palästinensischen Gebiete, "damit die jüdischen Herrenmenschen dort ihren Anbau betreiben können." Und darunter noch der Satz: "P.S.: Das ist nicht antisemitisch." Das sah der DGB anders. Der Mann musste seine Ehrenämter bei dem Gewerkschaftsbund aufgeben.
Der Facebook-Eintrag ist ein deutliches Beispiel dafür, ab welchem Punkt Kritik an Israel die Schwelle zum Antisemitismus überschreitet: Israel wird dämonisiert, die alleinige Schuld für den Nahost-Konflikt zugeschrieben und mit nationalsozialistischen Begriffen wie "Herrenmenschen" diffamiert. Nicht immer aber ist der Übergang zum Antisemitismus so deutlich. Häufig ist Kritik an der israelischen Regierung überhaupt nicht antisemitisch. Und da wird es kompliziert.
In einem offenen Brief haben sich jüngst 60 deutsche und israelische Wissenschaftler an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewandt. Sie drücken darin die Sorge vor einem "inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs" aus, der auf die "Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik" ziele. Es ist nicht der erste Brief, in dem diese Sorgen ausgedrückt werden.
Angeblicher Einfluss aus Israel
Der Vorwurf, ein Antisemit zu sein, wiegt im post-nationalsozialistischen Deutschland besonders schwer. Entsprechend scharf wird die Debatte geführt. Meist kreisen die Kontroversen um einzelne Personen, die mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert werden. Vor allem jüdische Organisationen und Einzelpersonen begründen ihren Antisemitismus-Vorwurf damit, dass die geäußerte Israelkritik weit über das hinaus ginge, wie andere Staaten kritisiert werden würden.
Auf der anderen Seite stehen Personen, wie die Unterzeichner des offenen Briefes, die häufig sagen, der Antisemitismus-Vorwurf haben seinen Ursprung in einer Einflussnahme aus Israel. So werfen die Unterzeichner des Briefs dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, vor, "rechtspopulistische israelische Stimmen" zu unterstützen. Gemeint ist damit der deutsch-persisch-israelische Publizist Arye Sharuz Shalicar, der auch Abteilungsleiter in der israelischen Regierung ist. Die Bundesregierung soll Shalicars Buch "Der neu-deutsche Antisemit" und dessen Lesereise gefördert haben. Shalicar kommt in seinem Buch zu dem Schluss, dass Antisemitismus in Deutschland, häufig getarnt als Israelkritik, tief verwurzelt sei. Was Shalicar zu einem israelischen Rechtspopulisten machen soll, erklären die Unterzeichner in dem Brief nicht.
Die Zeitung "Der Tagesspiegel" berichtet unter Berufung auf das Büro des Antisemitismusbeauftragten, die Bundesregierung habe lediglich eine Antisemitismus-Tagung mit 14.000 Euro unterstützt, bei der unter anderem Shalicar als Redner auftrat. Das Büro des Beauftragten bestätigte die Angaben des Tagesspiegel auf Anfrage der DW. In einem Gegenbrief an Merkel haben inzwischen zahlreiche jüdische Organisationen, darunter der Zentralrat der Juden, ihre Solidarität mit Felix Klein ausgedrückt. Es wird ausdrücklich gelobt, dass er konsequent alle Erscheinungsformen des Antisemitismus bekämpfe.
Kriterien für anti-israelischen Judenhass
Es gibt Definitionen, die dabei helfen, israelbezogenen Antisemitismus zu erkennen. Der sogenannte 3-D-Test kategorisiert Kritik an Israel dann als antisemitisch, wenn die Aussagen Israel dämonisieren, delegitimieren oder doppelte Standards angelegt werden. Auch die Organisation "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA) hat eine Arbeitsdefinition erarbeitet, wonach Erscheinungsformen von Antisemitismus sich auch "gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird" richten können. Allerdings könne "Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden".
Unterzeichner des Gegenbriefes beziehungsweise deren Unterstützer sehen diese Vorgabe in Deutschland auch eingehalten. Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel sagte im Deutschlandfunk, niemand, der bei "Sinn und Verstand" sei, behaupte, legitime Kritik an Israel sei antisemitisch. Die einzigen, die das behaupteten, seien die Schreiber des offenen Briefes an Merkel. "Das ist ein Phantasma in den Köpfen." Dem widerspricht beispielsweise die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die den offenen Brief mitunterzeichnete. Vor allem dadurch, dass der deutsche Bundestag die IHRA-Arbeitsdefinition nicht vollständig, sondern nur in Teilen, übernommen habe, habe sich die Meinungsfreiheit verengt.
Antisemitische Straftaten von Rechts
Unterzeichner des offenen Briefes, wie der langjährige Antisemitismusforscher Wolfgang Benz und Aleida Assmann, sehen die Hauptgefahr im Antisemitismus von rechts. Tatsächlich gehen die meisten antisemitischen Straftaten auf das Konto von Rechtsextremen; die Zahl variiert jedoch stark, abhängig davon, welche Statistik herangezogen wird. Demgegenüber machen verschiedene jüdische Verbände und Institutionen seit Jahren auf einen erstarkten Antisemitismus aus linken und muslimischen Kreisen aufmerksam. In diesen Kreisen tritt der Antisemitismus vor allem im Gewand des Antizionismus auf.
Was das bedeutet und wie groß die Diskrepanz in der Wahrnehmung ist, wird am Beispiel der Bewegung Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen BDS deutlich: Vergangenes Jahr beurteilte der Bundestag die weltweite Boykott-Bewegung gegen Israel als teilweise antisemitisch. Historiker Benz kritisiert das und sagt der Bundestag liege falsch, wenn er BDS "als schlimmsten Auswuchs des Antisemitismus definiere". Sein Historiker-Kollege Michael Wolffsohn widerspricht. Er warnt vor einer Verharmlosung der Bewegung und sagt, die Ziele des BDS förderten letztendlich das Ende Israels. BDS-Anhänger setzen weltweit auf den Boykott von israelischen Waren und Kulturangeboten, um, wie es im Gründungsdokument von 2005 heißt, Israel dazu zu bringen, "die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes" zu beenden.
Heimstätte aller Juden nach Verfolgung
Außerdem fordert BDS das Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge, die 1948 nach der israelischen Staatsgründung vertrieben worden oder geflohen sind. Durch den vererbten Flüchtlingsstatus sind das heute rund fünf Millionen Menschen. Das könnte das Ende des jüdischen Staates mit seinen fast neun Millionen Einwohnern bedeuten, befürchten viele Juden. Viele jüdische Organisationen heben deshalb den antizionistischen Charakter von BDS hervor, da die Bewegung Israel als zionistischen Staat bekämpft. Zionismus beschreibt das Streben nach einer Heimstätte aller Juden, nach Jahrtausenden der Verfolgung. Das Ziel wurde 1948 mit der Gründung Israels erreicht – auch dadurch, dass nun Juden aus aller Welt jederzeit nach Israel emigrieren können. Die Frage ist nur: Wenn Israel als zionistischer Staat – und somit als sichere Überlebensgarantie aller Juden - abgeschafft wird, was bleibt dann noch?
Für die einen ist BDS weiterhin eine friedliche und effektive Form des Protests, für die anderen schleichender Antisemitismus. Eine Studie verschiedener jüdischer Nichtregierungsorganisationen ergab 2019 einen Zusammenhang zwischen dem Erstarken von BDS-Gruppen an US-amerikanischen Hochschul-Campus und antisemitischen Vorfällen. Andererseits gibt es auch israelische Stimmen, wie den ehemaligen Botschafter in Deutschland Schimon Stein, die daraufhin hinweisen, dass die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu sehr schnell Kritik an der Besatzungspolitik als antisemitisch bezeichne, um die Kritik zu unterbinden.
In Deutschland wird gerade die vermeintliche Einmischung aus Israel zunehmend kritisch gesehen. Und solange keine Einigkeit darüber besteht, wie gefährlich anti-israelische Judenfeindlichkeit ist und ob Antizionismus eine Form des Antisemitismus ist, wird es weitere offene Briefe, Gegenbriefe und sich unversöhnlich gegenüberstehende Parteien geben.