Israelische Parteien einigen sich auf Notstandsregierung
Veröffentlicht 11. Oktober 2023Zuletzt aktualisiert 11. Oktober 2023Die israelische Regierungskoalition unter der Führung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der Likud-Partei hat sich mit Oppositionspolitiker Benny Gantz und dessen Partei Nationale Union auf die Bildung einer Notstandsregierung verständigt. Die Parteien hätten vereinbart, ein "Kriegskabinett" zu bilden, dem Netanjahu, Gantz und Verteidigungsminister Joaw Galant angehören, heißt es in einer Erklärung. Dieses Gremium solle für die Dauer der Kämpfe mit der Hamas im Gazastreifen bestehen.
Weiter wurde mitgeteilt, Ex-Armeechef Gadi Eisenkot, der ebenfalls Oppositionsmitglied ist, sowie der Minister für strategische Angelegenheiten, Ron Dermer, sollten der Notstandsregierung als Beobachter ohne Stimmrecht angehören. Netanjahus rechtsextreme und ultrareligiöse Koalitionspartner verbleiben demnach ebenfalls in der Regierung.
Netanjahu hatte am Samstag den beiden Oppositionspolitikern Jair Lapid von der liberalen Partei Jesch Atid und Benny Gantz den Eintritt in eine Notstandsregierung angeboten. Seit Tagen liefen im Hintergrund Verhandlungen. Unklar ist, ob Ex-Regierungschef Lapid eine Rolle in der Notstandsregierung spielen will. Medien zufolge soll ein Posten in der Regierung für ihn freigehalten werden, sollte er sich anschließen wollen.
Zudem stimmte Netanjahu laut der Erklärung zu, die umstrittene Justizreform der Regierung auf Eis zu legen, die monatelange Massenproteste ausgelöst hatte. "Während des Krieges werden keine Gesetzesvorlagen oder von der Regierung unterstützte Anträge eingebracht, die nichts mit dem Krieg zu tun haben", hieß es.
Israel setzt Gegenangriffe im Gazastreifen fort
Zum dritten Mal innerhalb von 24 Stunden seien umfangreiche Angriffe im palästinensischen Gazastreifen erfolgt, teilten die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) am Mittwochmorgen mit. Dabei seien insgesamt mehr als 450 anvisierte Ziele der Hamas getroffen worden.
Die Luftwaffe schaltete bei ihren Angriffen nach eigenen Angaben auch ein Radarsystem der Hamasaus. "Kampfjets haben ein fortschrittliches Radarsystem zerstört, das die Terrororganisation Hamas entwickelt hat und das zur Erkennung von Flugkörpern über dem Gazastreifen diente", schreibt die Armee im Onlinedienst X, ehemals Twitter. Die Hamas habe über Jahre ein hochwertiges Kameranetz entwickelt, das in Wasserbehältern auf Dächern versteckt über den ganzen Gazastreifen verteilt worden sei.
Gezielt angegriffen wurde auch die Islamische Universität im Gazastreifen. Die Hochschule sei von der Hamas - die auch von der EU, den USA und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft ist - als Trainingscamp für militärische Geheimdienstmitarbeiter sowie für die Entwicklung und Produktion von Waffen genutzt worden, teilte die israelische Armee mit. Außerdem habe die Hamas auf Universitätskonferenzen Geld für Terrorismus gesammelt.
USA liefern "hochentwickelte" Munition
In seinem Kampf gegen die Hamas bekommt Israel auch militärische Unterstützung der USA. Der amerikanische Präsident Joe Biden sagte, erklärtes Ziel der Hamas sei die "Vernichtung des Staates Israel durch die Ermordung des jüdischen Volkes". Ein erstes US-Transportflugzeug mit "hochentwickelter" Munition sei in der Nacht zum Mittwoch auf dem Luftwaffenstützpunkt Nevatim im Süden Israels gelandet, berichtete die israelische Internet-Zeitung "The Times of Israel" unter Berufung auf die israelische Armee. Die Munition ermögliche "bedeutende Angriffe".
UN sprechen von 260.000 Obdachlosen
Mehr als 260.000 Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) im Gazastreifen aus ihren Häusern geflohen. Diese Zahl dürfte noch steigen, erklärte das UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) in Genf. Viele lebten auf der Straße oder suchten Schutz in Schulen. Die Zahl der Binnen-Vertriebenen im Gazastreifen sei die höchste seit 2014, hieß es weiter.
Ein städtisches Gebäude, das als Notunterkunft diente, wurde bei einem israelischen Angriff getroffen. Überlebende berichteten von vielen Toten. Nach jüngsten Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums im Gazastreifen wurden auf palästinensischer Seite insgesamt bislang 1055 Menschen getötet und fast 5200 verletzt.
Einziges Kraftwerk im Gazastreifen stellt Produktion ein
Das einzige Großkraftwerk im Gazastreifen ist nach Angaben der palästinensischen Elektrizitätsgesellschaft wegen Treibstoffmangels abgeschaltet worden. Nun will man das Gebiet mithilfe von Solarenergie zumindest für zehn Stunden pro Tag Strom mit Strom versorgen, wie die palästinensische Energiebehörde mitteilte. Israel hatte als Reaktion auf den großangelegten Terrorangriff der Hamas bereits am Montag seine Stromversorgung für den Gazastreifen unterbrochen. Auch die Lieferung von Treibstoff und anderen Gütern wurde eingestellt.
Mehr als 1200 Todesopfer in Israel
Nach Angaben des staatlichen israelischen Rundfunks Kan und der Armee stieg die Zahl der Todesopfer in Israel durch den Terrorüberfall inzwischen auf mehr als 1200. Unter ihnen seien 169 Soldaten, sagte ein Militärsprecher. Mehr als 2800 Menschen wurden verletzt.
Terroristen der Hamas hatten am Samstag bei einem Großangriff auf das Grenzgebiet das schlimmste Blutbad unter Zivilisten seit der israelischen Staatsgründung angerichtet. Sie drangen am jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora) in viele Orte ein und ermordeten die Bewohner. Andere wurden in den Gazastreifen verschleppt.
Schweigeminute im Deutschen Bundestag für die Opfer des Hamas-Terrors
Der Bundestag gedachte in Berlin mit einer Schweigeminute der Opfer des Angriffs. An der Bundestagssitzung nahmen auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, teil. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sprach von "beispiellosem Terror". Sie sicherte Israel "die volle und uneingeschränkte Solidarität des Deutschen Bundestags" zu und sprach Prosor die Anteilnahme des Parlaments aus.
Bas sagte in ihrer Ansprache: "Wir verurteilen die menschenverachtenden Terrorakte gegen Israel auf das Schärfste." Dieser Terror sei durch nichts zu rechtfertigen und müsse sofort beendet werden, forderte Bas. Alle Geiseln müssten umgehend freigelassen werden.
Deutschland akzeptiere keinerlei Unterstützung der "feigen und widerwärtigen Verbrechen" der Hamas und auch nicht, wenn dieser Terror auf deutschen Straßen verherrlicht werde. "Wir akzeptieren keine Israelfeindlichkeit und keinen Antisemitismus in Deutschland." Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson, betonte die Bundestagspräsidentin.
Botschafter Prosor sagte der DW, sein Land sei in tiefer Trauer nach den unerwarteten massiven Terroranschlägen der Hamas. Israel werde so zurückschlagen, dass es die terroristische Infrastruktur der Hamas danach nicht mehr geben werde.
Von der Leyen spricht von "Kriegsakt"
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den Großangriff der Hamas auf Israel als "Kriegsakt" bezeichnet. "Europa steht an der Seite Israels", betonte von der Leyen anlässlich einer Schweigeminute im Beisein des israelischen Botschafters in Brüssel. Die EU unterstütze Israels Recht, sich selbst zu verteidigen.
Unschuldige Opfer seien "aus einem einzigen Grund getötet worden - weil sie jüdisch waren und im Staat Israel lebten", erklärte von der Leyen. "Es gibt keine Rechtfertigung für den Terror der Hamas", fügte sie hinzu. Der Großangriff habe "nichts zu tun mit den legitimen Bestrebungen der Palästinenser". "Unsere humanitäre Hilfe für die Palästinenser steht nicht zur Debatte", ergänzte von der Leyen. Es sei jedoch wichtig, die finanziellen Hilfen der EU für die palästinensischen Behörden sorgfältig zu prüfen.
Zu der Schweigeminute hatten sich in Brüssel EU-Spitzenpolitiker, Abgeordnete und zahlreiche Mitarbeitende des EU-Parlaments vor dem Gebäude des Europaparlaments versammelt.
Papst ruft zur Freilassung der Geiseln auf
Papst Franziskus rief die Hamas dazu auf, alle Verschleppten unverzüglich freizulassen. Zugleich äußerte sich das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche besorgt über die Abriegelung des palästinensischen Gazastreifens durch Israel. "Ich bete für die Familien, die miterlebt haben, wie sich ein Festtag in einen Tag der Trauer verwandelt hat, und ich bitte darum, dass die Geiseln sofort freigelassen werden", sagte Franziskus während seiner wöchentlichen Audienz.
Mit Blick auf Israels Reaktionen erklärte der Papst: "Es ist das Recht derjenigen, die angegriffen werden, sich zu verteidigen, aber ich bin sehr besorgt über die totale Belagerung, in der die Palästinenser im Gazastreifen leben, wo es auch viele unschuldige Opfer gegeben hat."
qu/jj/jdw/se/cwo/pg/haz/ehl (dpa, afp, ap, rtr, kna)
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