Israel: Alle gegen Bibi
2. Juni 2021Zwölf Jahre war Benjamin Netanjahu in Israel an der Macht. Doch jetzt, nach der mittlerweile vierten Wahl innerhalb von zwei Jahren, haben seine politischen Gegner eine Koalition ohne den langjährigen Premier geformt. Aber das Bündnis wirkt äußerst fragil. Die Positionen der Parteien gehen weit auseinander, und auch die Parteichefs könnten unterschiedlicher nicht sein.
Der Oppositionsführer: Jair Lapid (Jesch Atid, 17 Sitze)
"Zwei Jahre politischer Lähmung sind genug", sagt Jair Lapid, der von Präsident Rivlin den Auftrag zur Regierungsbildung bekommen hatte. Seine Partei Jesch Atid - zu deutsch "Es gibt eine Zukunft" - stellt in der Knesset die zweitstärkste Fraktion. Sie ist der politischen Mitte zuzurechnen und vertritt dabei vor allem Israels säkulare Mittelschicht. Der 57-jährige Lapid hat sie 2012 selbst gegründet, zuvor war er Journalist und Fernsehmoderator.
Lapid setzt sich für eine Zweistaatenlösung mit den Palästinensern ein, will dabei aber gleichzeitig die umstrittenen und von den Vereinten Nationen als völkerrechtswidrig eingestuften großen jüdischen Siedlungsblöcke in Ostjerusalem und dem Westjordanland behalten. Zugleich sieht der Ex-Finanzminister sich und seine Partei als Speerspitze im Kampf gegen die Korruption im Land; auch deshalb entwickelte er sich zunehmend zu einem scharfen Kritiker des scheidenden Premiers. Lapids Partei gilt als wirtschaftsliberal und innovationsfreundlich und steht den derzeit bestehenden Sonderrechten für ultraorthodoxe Juden kritisch gegenüber.
Der Hardliner: Naftali Bennett (Jamina, 7 Sitze)
Er gilt als schwierigster Partner der neuen Koalition - soll aber sofort ihr neuer Premier werden: Naftali Bennett ist ein religiös-nationalistischer Hardliner, der größte politische Fürsprecher der jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten und ein entschiedener Gegner der Zweistaatenlösung. Bennett würde am liebsten große Teile des Westjordanlandes annektieren und Gaza Ägypten zuschlagen. Mit seinen radikalen Vorschlägen hat er in den vergangenen Jahren die israelische Regierung unter Netanjahu immer weiter nach rechts rücken lassen. Bennett, der einst selbst Millionen mit einem Start-up-Unternehmen scheffelte, steht für eine ultraliberale Wirtschaftspolitik, aber auch für die Stärkung national-religiöser Bildungseinrichtungen.
Jair Lapid braucht Bennett, um Netanjahu als Premier ablösen zu können - doch der politische Preis dafür ist hoch. Die Einigung zwischen beiden sieht eine geteilte Ministerpräsidentschaft vor: Zunächst wird Naftali Bennett für zwei Jahre den Posten des Regierungschefs bekleiden, erst 2023 soll Lapid übernehmen - falls die Koalition überhaupt so lange hält.
Der Generalleutnant: Benny Gantz (Kachol Lavan, 8 Sitze)
Wie Bennett blickt auch Benny Gantz auf eine Karriere in Israels Armee zurück. Zeitweise bekleidete er den Posten des Generalstabschefs, so auch während des Gaza-Kriegs im Sommer 2014. Eigentlich war er bereits designierter Premier, nach den Wahlen 2020 sollten sich Netanjahu und Gantz den Posten ebenso teilen wie das nun Lapid und Bennett vorhaben. Doch Netanjahu ließ die Koalition vorzeitig platzen, und bei den Neuwahlen 2021 gehörte Gantz‘ Kachol Lavan zu den großen Verlierern - auch weil Jair Lapid sich aus seiner "Liste Blau-Weiß" losgelöst und Gantz damit viele Stimmen gekostet hat.
Auch Gantz hält an den großen jüdischen Siedlungsblöcken im Westjordanland fest, er will zwar mit den Palästinensern verhandeln, vermied aber lange Zeit eine klare Positionierung zur Zweistaatenlösung. Zuletzt befürwortete er jedoch eine Annexion des Jordantals. Innenpolitisch will er den "jüdischen Charakter Israels bewahren" und mehr in Gesundheit, Bildung und wirtschaftliche Innovation investieren.
Der "Russe": Avigdor Lieberman (Israel Beitenu, 7 Sitze)
"Israel Beitenu" - "Unser Haus Israel" - ist die Partei der aus Russland eingewanderten Israelis und die politische Heimat von Avigdor Lieberman. Der 62-jährige Ex-Außenminister gilt als ultranationalistischer Hardliner - er befürwortet zwar eine Zweistaatenlösung, aber nur, wenn dafür der Großteil der Palästinenser mit israelischem Pass ausgebürgert und in die palästinensischen Gebiete umgesiedelt wird.
Israelische Siedlungen im Westjordanland will er annektieren, dafür könnten kleinere, arabisch besiedelte Gebiete in Israel an das Westjordanland abgetreten werden. Seine Partei gilt als säkular und lehnt die Religionspolitik der ultra-orthodoxen Parteien entschieden ab. Sie steht für eine Weiterentwicklung der freien Marktwirtschaft und eine weitere Öffnung des Landes für ausländische, nicht zuletzt russische Investoren.
Der Abtrünnige: Gideon Saar (Neue Hoffnung, 6 Sitze)
Lange Jahre war Saar ein Parteigänger von Benjamin Netanjahu. Als Netanjahu 2019 wegen Korruption angeklagt wurde, ging er gegen den Premier in eine Kampfabstimmung um den Vorsitz der Likud-Partei - und verlor diese krachend.
Ende 2020 verließ Saar den Likud und gründete die Partei "Neue Hoffnung". Der Jurist lehnt eine Zweistaatenlösung ab und ist einer Annexion des Westjordanlandes gegenüber zumindest nicht abgeneigt. Seine Likud-Splitterpartei gilt als konservativ und steht für eine Marktwirtschaft mit einem starken sozialen Netz, aber ansonsten relativ geringem Einfluss des Staates.
Die Feministin: Merav Michaeli (Awoda, 7 Sitze)
Erst im Januar 2021 zur neuen Parteichefin gewählt, sollte Merav Michaeli der altehrwürdigen Arbeitspartei von Jitzhak Rabin und Schimon Peres neues Leben einhauchen. Lange Jahre war die Partei die bestimmende Kraft in der israelischen Politik. Spätestens seit der Jahrtausendwende hatte sie jedoch mit immer größeren Stimmverlusten zu kämpfen. Nun scheint der freie Fall vorerst gestoppt - wenn auch auf niedrigem Niveau.
Politisch steht die eher linke Arbeitspartei vor allem für eine Marktwirtschaft mit starken Sozialprogrammen; sie ist für eine Anhebung des Mindestlohnes und bezahlbaren Wohnraum. In der Sicherheitspolitik befürwortet sie "durchsetzbare Verhandlungen" mit den Palästinensern. "Ein Zuhause für das jüdische Volk, Gleichheit für alle, eine gerechte Gesellschaft und Sicherheit für alle durch das Streben nach Frieden" - so umreißt Merav Michaeli die Ziele ihrer Partei. In der Knesset fällt sie vor allem als progressive Politikerin auf, die sich unter anderem für Frauen- und LGBTQ-Rechte einsetzt.
Der Linke: Nitzan Horowitz (Meretz, 6 Sitze)
Seit 2019 ist Horowitz Chef der wohl am weitesten links einzuordnenden Partei in der Knesset. Seine Partei "Meretz" akzeptierte als erste zionistische Partei die Idee eines palästinensischen Staates und unterstützt Forderungen nach einem israelischen Rückzug aus dem Westjordanland. Sie setzt sich für Bürgerrechte, soziale Gerechtigkeit und religiöse Vielfalt ein – sowie für die Legalisierung weicher Drogen. Horowitz selbst ist der erste offen homosexuelle Parteichef in Israel überhaupt und daher auch ein großer Befürworter der gleichgeschlechtlichen Ehe.
Die Zünglein an der Waage: Israels arabische Parteien
So schillernd die oben beschriebene Koalition auch ist - sie besaß bislang nur 58 der erforderlichen 61 Sitze in der Knesset. Deshalb war sie über ihre eigenen politischen Differenzen hinaus auch noch auf eine Unterstützung durch eine israelisch-arabische Partei angewiesen. Doch die sozialkonservative Ra'am steht jeglichen liberalen Modernisierungen eher skeptisch gegenüber. Sie galt bis kurz vor Ende der zur Regierungsbildung gesetzten Frist als unsicherer Kantonist. Noch im April hatte sich Parteichef Mansour Abbas sogar eine Koalition mit Netanjahu vorstellen können - wechselte dann aber kurzfristig die Seite. Zuletzt war bekannt geworden, dass Jair Lapid nun auch mit der zweiten arabisch-israelischen Partei, der Vereinten Liste, über einen Koalitionsbeitritt verhandelte.
Die Regierungskoalition steht also auf äußerst tönernen Füßen. Auch wenn die Ära Netanjahu damit vorerst beendet ist, stehen Israel innenpolitisch weiter unsichere Zeiten bevor.