"Islamischer Staat" wütet in den eigenen Reihen
22. Dezember 2014Sie hatten gekämpft, aber aus Sicht ihrer Kommandeure offenbar nicht entschlossen genug. Als die Dschihadisten der Terrorbewegung "Islamischer Staat" (IS) am Wochenende geschlagen aus der Schlacht um die Stadt Sindschar im nördlichen Irak zurückkehrten, zeigten ihre Führer keine Nachsicht. Medienberichten zufolge ließen sie mehrere Dutzend ihrer eigenen Männer hinrichten. Dies war aus ihrer Sicht die angemessene Strafe für die Niederlage im Kampf gegen die kurdischen Peschmerga-Milizen. Denen war es gelungen, Teile der von den Dschihadisten eroberten Stadt wieder in ihre Gewalt zu bekommen.
Ähnlich brutal gingen Kommandeure des IS auch in Syrien vor. Presseberichten zufolge ließen sie rund 100 überwiegend europäische Milizionäre hinrichten. Diese hatten offenbar genug vom Kampf und wollten in ihre Heimatländer zurückkehren. Mehrere hundert weitere Kämpfer werden Medienberichten zufolge bewacht. Denn auch sie wollen die Kampfgebiete offenbar verlassen.
Die Hinrichtungen sollen offenbar der Abschreckung dienen, sagt die an der Freien Universität Berlin lehrende Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey. Sie dienten als Warnung an all jene, die für den IS nicht mehr kämpfen wollten. Darum träfe die Strafaktion vor allem wohl jene, die sich im IS nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus anderen Motiven - etwa der Hoffnung auf materielle Vorteile - engagiert hätten. "Diejenigen dagegen, die sich der Bewegung aus ideologischer Überzeugung angeschlossen haben, dürften gegen solche Aktionen nichts einzuwenden haben. Womöglich begrüßen sie sie sogar."
IS verliert an Dynamik
Im vergangenen Sommer hat der "Islamische Staat" weite Teile Syriens wie auch des Iraks überrannt - doch jetzt scheint der Vormarsch der Miliz gebremst. Teilweise ist er auch ganz zum Erliegen gekommen - so etwa in der nordsyrischen Stadt Kobane. Dort liefern sich die IS-Terroristen seit Monaten erbitterte Kämpfe mit kurdischen Einheiten. Unterstützt von Luftangriffen des internationalen Bündnisses ist es diesen bislang gelungen, den Vormarsch der Gotteskrieger aufzuhalten. Doch der Erfolg hat seinen Preis: Mehrere hundert Kurden sollen bei den Kämpfen bislang umgekommen sein. Wesentlicher höher ist die Zahl der Opfer aber in den Reihen der IS-Kämpfer. Nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind über tausend Dschihadisten in Kobane gestorben.
In der irakischen Stadt Sindschar musste der IS nun sogar den Rückzug antreten. Die Dschihadisten scheiterten an den Kurden, die, ausgerüstet auch mit deutschen Waffen, im Nordirak den stärksten Widerstand leisten. Zwar haben sich im Rest des Landes arabische Schiiten und gemäßigte Sunniten noch nicht zu einem gemeinsamen Bündnis entschließen können. Doch Gespräche finden statt und kommen offenbar voran: Die irakische Zeitung Al Mada hält eine politische Lösung des Konflikts inzwischen für möglich. "Zum ersten Mal schaffen wir es, der Katastrophe etwas entgegenzusetzen und mögliche Lösungen ins Auge zu nehmen", heißt es in der Ausgabe vom 22. Dezember.
Die jüngsten Misserfolge könnten dem IS einen Teil seines Nimbus nehmen, erwartet der Nahost-Experte Stefan Rosiny vom Hamburger Thinktank GIGA. Bislang habe er sich vor allem auf "weiche Gebiete" konzentriert - Gebiete, in denen vor allem Minderheiten wie Jesiden oder Kurden leben. Doch nun habe die Terrororganisation sich übernommen. Das werde Folgen haben, sagt Rosiny in einem Interview mit der "Sächsischen Zeitung": "Der IS wird an Attraktivität verlieren, wenn sich sein Versprechen eines universalen Kalifats als Seifenblase erweist."
Dschihadismus als globale Herausforderung
Dennoch bleibt die dschihadistische Herausforderung insgesamt bestehen. Vielleicht wächst sie sogar noch. Denn Bewegungen radikaler Islamisten gibt es derzeit in nahezu allen muslimischen Ländern oder Regionen. Von Abu Sayyaf auf den Philippinen über die soeben gegründete Al-Kaida Gruppe in Indien, die Taliban in Pakistan und Afghanistan bis hin zu den Dschihadisten in Nahost und Nordafrika: Überall sind dschihadistische Gruppen präsent. "Der politische Islam hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer stärker radikalisiert", sagt Gülistan Gürbey. Darum sei er regional und global weiterhin eine Bedrohung. "Selbst wenn es jetzt gelänge, den IS militärisch einzugrenzen, bliebe er politische eine große Herausforderung. Sie zu bewältigen wird Jahre dauern."
Längst ist es den Dschihadisten gelungen, ihre Agenda auch anderen Ländern der Region aufzuzwingen. Die schwierige wirtschaftliche Situation in vielen Ländern ist ein günstiger Nährboden für radikale Ideen. Man müsse langfristig darum auch die wirtschaftlichen und sozialen Diskrepanzen in den Gesellschaften des Nahen Ostens in den Blick nehmen, sagt Gülistan Gürbey: "Die sind etwas aus dem Blick geraten. Denn zunächst geht es ja darum, der existentielle Bedrohung vor Ort Herr zu werden."