Bagdad im Visier
12. Juni 2014Bis auf 60 Kilometer rückten die ISIS-Kämpfer an die irakische Hauptstadt Bagdad heran. Sie besetzten die Stadt Dhuluijah nördlich von Bagdad, wie Stadtrat, Polizei und Augenzeugen übereinstimmend berichten. Bei ihrem Vormarsch umgingen die Rebellen die Stadt Samarra, nachdem sie am Mittwoch mit dem Versuch gescheitert waren, auch diese Stadt zu erobern. ISIS-Sprecher Abu Mohammad al-Adnani kündigte an, seine Einheiten würden weiter auf Kerbela und die Hauptstadt Bagdad vorrücken.
In der nordöstlichen Provinz Dijala stießen die Extremisten laut Medienberichten mit irakischen Truppen zusammen. Rund 50 Kämpfer seien bei Gefechten getötet worden. Die ISIS habe sich daraufhin wieder zurückgezogen, hieß es. In Bakuba, der Provinzhautstadt, errichtete die irakische Armee zusammen mit Polizeikräften und freiwilligen Stammeskämpfern eine gemeinsame Front.
Lage von Tikrit unklar
Um einen Sturm der ISIS auf die Stadt Kirkuk (s. Artikelbild) in der Kurdenregion abzuwehren, übernahmen kurdische Pschmerga-Kämpfer die Kontrolle über die für den Ölhandel wichtige Stadt. Der für die Sicherheitskräfte zuständige Minister, Dschaafar Mustafa, entging wenig später einem Attentatsversuch.
Unklar ist die Lage in der zentralirakischen Stadt Tikrit, die am Vortag von den Aufständischen erobert worden war. Während Medien am Vormittag meldeten. Die irakische Armee habe die Stadt zurückerobert, hieß es später, die Luftwaffe habe die Geburtsstadt des früheren Machthabers Saddam Hussein bombardiert.
Notstandsmaßnamen gescheitert
Unterdessen scheiterte Präsident Nuri al-Maliki mit dem Versuch durch das Parlament den Notstand ausrufen und sich weitreichende Befugnisse im Kampf gegen den Terror übertragen zu lassen. Trotz der Zuspitzung der Lage erschienen nur 128 von 325 Abgeordneten. Damit wurde das notwendige Quorum verfehlt, die Sitzung wurde abgebrochen. Offiziere machen den Präsidenten sogar für die Schwäche des Widerstands gegen die Extremisten verantwortlich. Es fehle schlicht ein "moralischer Führer".
In der nordirakischen Stadt Mossul, die die ISIS-Kämpfer am Montag erobert hatten, konnten die Rebellen ihr Regime festigen. Sie errichteten ein Kommandozentrum und veröffentlichten ein Kommuniqué mit neuen Gesetzen für die Stadt. Danach wurden der Konsum von Drogen, Alkohol und Zigaretten ebenso unter Strafe gestellt wie das sichtbare Tragen von Waffen. Nach Informationen erbeuteten die Aufständischen in Mossul umgerechnet 318 Millionen Euro. Das würde sie zur reichsten Terrororganisation im Nahen Osten machen.
Schreckensregime in Mossul
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf den ISIS-Kämpfern Bombenanschläge in Wohngebieten, Massenexekutionen, Folter, Diskriminierung von Frauen und Zerstörung kirchlichen Eigentums vor. Waren schon am ersten Tag der Besatzung 500.000 Menschen aus der Stadt geflohen, sollen jetzt nach Angaben der Organisation Ärzte ohne Grenzen rund eine Million Iraker auf der Flucht seien.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat den Vormarsch islamistischer Extremisten im Irak als einen Beleg für das Scheitern der US-geführten Invasion vor elf Jahren bezeichnet. "Die Ereignisse im Irak verdeutlichen den vollkommenen Misserfolg des Abenteuers, an dem sich die USA und Großbritannien beteiligt haben", sagte Lawrow der Nachrichtenagentur Iter-Tass.
US-Regierung für Hilfe offen
Ein US-Regierungsvertreter sagte, Washington prüfe verschiedene Optionen zur Unterstützung der irakischen Regierung - etwa Drohnenangriffe. Außenamtssprecherin Jen Psaki kündigte "angemessene Unterstützung" an. Der Einsatz bewaffneter Drohnen wäre ein bedeutender Kurswechsel Washingtons. Im Jahr 2011 waren die letzten US-Truppen aus dem Irak abgezogen worden.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sagte der "Bild"-Zeitung, die Lage sei "alarmierend", weil die Kämpfe "die durch den Syrienkrieg aus der Balance geratene Region noch weiter in Gewalt und Chaos zu stürzen drohen". Trotz der Nähe des Konflikts zur Türkei rechne er aber nicht mit einem Eintreten des Nato-Bündnisfalls.
In New York zeigte sich UN-Generalsekretär Ban Ki Moon alarmiert, dass elf Jahre nach dem Sturz von Saddam Hussein die Extremisten «"den Weg zur Demokratie zunichte machen" könnten. Der UN-Sicherheitsrat traf sich zu einer Dringlichkeitssitzung.
gmf/qu (afp, dpa, rtr)