100 Jahre Oktoberrevolution und der russische Patriotismus
7. November 2017Die Germanistin, Historikerin und Journalistin Irina Scherbakowa lebt in Moskau. Sie gehörte 1988 zu den Mitbegründern der Stiftung "Memorial", die sich für die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit und des Terrors einsetzt. Ende August wurde die Menschenrechtsaktivistin für ihr mutiges Engagement mit der Goethe-Medaille geehrt. "Zur Sprache zu bringen, was bisher verschwiegen wurde", dafür setzt sie sich in ihrer russischen Heimat seit Jahrzehnten ein.
Nach dem 1917 in Russland gültigen Gregorianischen Kalender fand die "Große sozialistische Revolution" im Oktober statt. Am 7. November jährt sich das Datum zum 100. Mal. Inzwischen halten sie viele Historiker eher für einen Putsch als einen von einer breiten gesellschaftlichen Basis getragenen Umsturz. Über die Schattenseiten des Sowjetimperiums wird bestenfalls unter akademischen Vorzeichen berichtet, denn die russische Regierung hat in den letzten vier Jahren Gesetze erlassen, die die Meinungsfreiheit massiv einschränken. Kritische Journalisten, darauf wies der Internationale PEN Ende September hin, würden zunehmend unter Druck gesetzt, ins Exil getrieben oder sogar gewalttätig bedroht.
Deutsche Welle: Russland begeht am 7. November einen wichtigen Gedenktag: 100 Jahre "Große sozialistische Oktoberrevolution", wie die Revolution von 1917 zu Sowjetzeiten hieß. Warum tut sich der Kreml schwer mit diesem Datum?
Irina Scherbakowa: Man tut sich schwer, weil man keinen Konsensus und keine wirkliche Einstellung dazu gefunden hat. Die Haltung zu diesem Datum ist sehr gespalten - und sehr kontrovers. Eine kurze und allgemeine Antwort wäre: Eigentlich ist für die Regierung schon der Begriff Revolution negativ besetzt. Man will gar keine Revolution und gar keine Umwälzungen, stattdessen Stabilität, Ordnung, Ruhe, usw., usf. – allein das Wort ist schon sehr suspekt.
Das ist einerseits so. Andererseits leben wir in einer Situation, wo noch sehr viele Denkmäler, sehr viele Straßennamen, und auch sehr viel Symbolik uns an die kommunistische Herrschaft erinnern. Abgesehen davon, dass der Autor dieser Revolution nach wie vor in seinem Mausoleum auf dem Roten Platz liegt.
Sie sprechen von Lenin.
Ja. Das ist völlig kontrovers zu dem, dass man die Zarenfamilie und den letzten Zaren eigentlich zu Märtyrern und den wichtigsten Opfern dieser Revolution erklärt hat. Und noch ein weiterer Widerspruch kommt hinzu: Warum wird die Sowjetunion und dieses sowjetische Reich jetzt in so einem positiven Licht dargestellt? Stalins Figur ist absolut damit verbunden. Wir bekommen schon seit langem zu hören, dass der Fall der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Es ist sehr schwierig, in diesem Brei eine Art Faden zu finden. Das ist eine in sich völlig kontroverse Geschichte. Das, was man sich vom Kreml her ideologisch zu diesem Datum ausgedacht hatte, war die "Versöhnung". Versöhnung und nationale Einheit. Man wollte auch ein Denkmal in diesem Sinne errichten, aber daraus ist auch nichts geworden.
Sie haben sich gemeinsam mit dem bekannten Osteuropahistoriker Karl Schlögel in einem langen Gespräch über Russlands Vergangenheit ausgetauscht und diesen Gedankenaustausch 2015 unter dem Titel "Der Russland-Reflex" als Buch veröffentlicht. Wo steht die historische Aufarbeitung des Stalinismus, für die Sie sich als Wissenschaftlerin, Journalistin und Mitbegründerin der Stiftung "Memorial" seit Jahrzehnten eingesetzt haben, heute?
Stalin war nur eine sehr kurze Zeit in gewissem Sinne tabu, in der Tauwetterperiode, als seine Denkmäler entfernt wurden und seine Bilder verschwunden sind. In den 1970er Jahren, unter Leonid Breschnew, kam Stalin sehr langsam zusammen mit der Glorifizierung des Großen Vaterländischen Kriegs wieder nach oben. Seit den Nullerjahren und ganz besonders in den letzten fünf Jahren ist Stalin fast zum Megastar geworden. Die Umfragen zeigen, dass über 40 Prozent der Befragten ihn als historische Figur absolut positiv bewerten.
Von Aufarbeitung kann man nicht sprechen. Die Forschung, das Studium von Archiven, Publikationen, etc. – das geht voran. Es sind sehr viele fundierte Bücher, auch Stalin-Biografien, erschienen. "Memorial" hat seine Arbeit mit den Opfern über zwei Jahrzehnte hinweg fortgesetzt. Aber das bedeutet gar nicht, dass das in das öffentliche Bewusstsein eingegangen wäre. Im Gegenteil. Wir erleben einen Riss zwischen dem, was viele gute Historiker inzwischen geschrieben haben und der sogenannten öffentlichen Meinung. Die nimmt die Signale, die das Fernsehen und die durch Propaganda von oben kommen, sehr wohl wahr. Und steht ganz anders zu Stalin und zu einer Aufarbeitung.
Im nächsten Jahr stehen in Russland Wahlen an, und es scheint so gut wie sicher, dass Putin wiedergewählt wird. Warum hat er seine Kandidatur bisher noch nicht bekanntgegeben?
Ich glaube, das wird bald passieren. Das werden keine wirklichen Wahlen sein – natürlich ist es den Menschen nicht verboten, in die Wahllokale zu gehen, im Gegenteil. Aber wirkliche Gegenkandidaten haben keine Möglichkeit, ein offenes Ohr zu bekommen, was die Hauptmedien wie das Fernsehen anbetrifft. In den großen staatlichen Kanälen können sie nicht auftreten, und der einzige wirklich mögliche Gegner, die ganz wichtige Figur Nawalny, ist zu den Wahlen überhaupt nicht zugelassen. Er saß ja gerade erst wieder für 20 Tage im Gefängnis.
Welche Rolle kann Alexej Nawalny, obwohl er nicht zur Präsidentschaftswahl zugelassen ist, als Oppositionspolitiker noch übernehmen? Und wenn er zugelassen wäre – würden Sie ihn wählen?
Das weiß ich noch nicht. Er ist nicht unbedingt der Kandidat meiner Träume. In Wirklichkeit wäre natürlich Nawalny der einzige unabhängige Kandidat. Hinter ihm stehen schon gewisse Strukturen. Er würde zweifellos die Wahlen nicht gewinnen. Aber wenn er zugelassen wäre, hätte man natürlich wenigstens den Versuch einer echten Wahl, denn Nawalny hat Anhänger.
An Putins 65. Geburtstag gab es in rund 80 Städten Demonstrationen gegen den Präsidenten. In der Moskauer Innenstadt forderten rund 1000 Kreml-Kritiker seinen Rücktritt. Hunderte Demonstranten wurden festgenommen. Wie stark ist die Opposition? Sind das alles Nawalny-Anhänger?
Nein, natürlich nicht. Das ist in diesem Sinne keine in sich geschlossene Opposition. Schon gar nicht das, was man sich im Westen, in Deutschland, unter einer Opposition vorstellt. Das sind Menschen, die unzufrieden sind, und die sich nach relativ langer Zeit und dem brutalen Auseinanderjagen von Kundgebungen getraut haben, auf die Straße zu gehen. Das Erstaunliche war, dass darunter doch eine ganze Menge junge Menschen waren. Es war seit langem das erste Mal, dass sie auf die Straße gingen.
Das Fernsehen ist von enormer Bedeutung für die Machtkontrolle des Kremls. Wie kontrolliert ist das Internet?
Das Internet ist in bestimmten Segmenten noch frei. Aber es gibt schon Gesetze für Einschränkungen. Blogger werden verfolgt, und sogar Menschen, die irgendetwas liken, was die Herrschenden als politisch gefährlich empfinden, kriegen schon Strafen und werden verfolgt. Es gibt leider in letzter Zeit eine Menge solcher Fälle. Das Internet droht so wie in China immer mehr unter Kontrolle zu kommen.
Der Kreis der unabhängige Medien wird immer enger und enger, was die Print-Presse, auch was das Radio und das Fernsehen anbetrifft. Es gibt nur noch einen einzigen freien TV-Sender namens "Regen", "Dorst" auf Russisch, der sich als freier Sender im Internet halten kann. Alles andere ist mehr oder weniger verstaatlicht.
Ist ein offener Meinungsaustausch vor Publikum überhaupt noch möglich?
Es kommt darauf an, wo und wann. Es ist sehr schwer, für Kundgebungen überhaupt eine Erlaubnis zu bekommen. Die Gesetzgebung wird diesbezüglich immer aggressiver. Kundgebungen werden ständig verboten, bei den Nawalny-Anhängern schon die ganze Zeit. Oder man verlegt Kundgebungen und Demonstrationen ganz an den Stadtrand.
Was noch zur Meinungsäußerung bleibt, ist zum Teil das Internet, es passiert jetzt ein Kampf über YouTube. Dort sammelt Nawalny jetzt Millionen von Zuschauern für seine Korruptions-Entlarvung.
Populismus, Nationalismus, Militarisierung – wie ausgeprägt sind Putins Großmachtträume? Der Traum vom russischen Imperium scheint wieder lebendig. Oder erleben wir, nach dem Zerfall der Sowjetunion, noch immer eine Art Nation Building?
Weder das eine noch das andere. Was man versucht den Menschen zu vermitteln, ist, dass der starke Staat eine Festung sein soll. Dass die Feinde überall lauern, das überall Spione sind. Man muss die Grenzen dicht halten können, denn der Feind kommt auch über die Grenzen! Ich glaube, das will man der Bevölkerung vermitteln.
Nationalistische, patriotische Programme haben in Russland noch nie zu irgendetwas Positiven führen können. Vielleicht täusche ich mich, aber ich habe das Gefühl, dass so ein Rückgang zum Traditionalismus ein Ersatz ist für die nicht stattfindende Modernisierung. Denn wir produzieren ja kaum etwas außer Waffen. Technologie wird bei uns nicht entwickelt. Das ist mit patriotischen Parolen und mit "Nation Building" nicht zu schaffen. Da braucht man Wissenschaftler, man braucht Freiheit, einen freien Markt, dann funktioniert das.
Gibt es noch Hoffnungsträger?
Man hat Hoffnung, weil man zusammen mit sehr vielen Menschen arbeitet, die Gleichgesinnte sind und ein demokratisches und freies Russland erleben wollen. Deshalb glaube ich nicht, dass es von Nutzen ist zu sagen, dass alles absolut hoffnungslos ist.
Aber man muss die Situation sehr ernst nehmen. Wenn der Weg des Nationalismus, des Fundamentalismus, der Militarisierung, der Abspaltung, und des Kalten Krieges wirklich konsequent bestritten wird, dann kann das für Russland sehr schlechte Folgen haben. Und somit für das ganze Europa.
Das Gespräch führte Sabine Peschel