Als die Krone der Sichel zur Revolution verhalf
6. November 2017Zürich, 9. April 1917. Am Bahnhof stehen 32 russische Emigranten zur Abfahrt bereit. Sie sind nicht die Einzigen, die gekommen sind. "Verräter, Lumpen, Schweine", schallt es den Abfahrenden entgegen. Auch Unterstützer der Reisegruppe sind gekommen. Sie singen die Internationale. Kurzzeitig werden die Gleise blockiert, doch der Zug setzt sich fauchend in Bewegung.
Es ist ein deutscher Sonderzug, von Kaiser Wilhelm II. zur Verfügung gestellt, um die Revolution in Russland weiter anzufachen. Denn in einem der Waggons sitzt kein geringerer als Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Mit deutscher Hilfe verlässt Lenin sein Schweizer Exil und erreicht eine Woche später sein Ziel: Petrograd, das heutige Sankt Petersburg. In Russland ist die Februarrevolution gerade vorbei, die Zar Nikolaus II. vom Thron fegte, eine provisorische Regierung ist im Amt und die große Revolution im Herbst noch nicht in Sicht.
Preußische Bajonette und russische Proletarierfäuste
Die Rückkehr des prominenten Exilanten in seine Heimat wird in Berlin mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. "Lenins Eintritt in Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch", kabelt Deutschlands Oberste Heeresleitung an das Auswärtige Amt. Ein politisches Paradoxon, wie es scheint. Wilhelm II verbündet sich mit dem Kommunisten Lenin. Ziel des deutschen Kaisers: die endgültige Schwächung des Zarenreiches mit dem sich die sogenannten Mittelmächte - also Deutschland und Österreich-Ungarn - seit 1914 im Krieg befinden.
Das Kalkül Berlins ist klar: Lenin und seine Bolschewiki sollen Russland destabilisieren und somit - mitten im Ersten Weltkrieg - für Entlastung an der Ostfront sorgen. Und der Plan geht auf. Denn das deutsche Kaiserreich bedient sich einer alten Regel der Diplomatie: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.
Idee und Konzeption dazu sind nicht ganz neu. Sie stammen von einem Mann, der den kommunistischen Kampfnamen "Parvus", der Kleine, trägt: Israil Lasarewitsch Helphand. Ein russischer Jude, der zu Reichtum gekommen ist und seinen Einfluss nutzt, um bereits Ende 1914 in Konstantinopel dem deutschen Botschafter ein Bündnis zwischen "preußischen Bajonetten und russischen Proletarierfäusten" anzubieten. Die Interessen Deutschlands und der russischen Revolutionäre seien identisch, so Parvus. Nach anfänglicher Skepsis bekommt er einen Termin in Berlin.
Kapitalist und Salon-Bolschewist
Helphand, der gern auf großem Fuße lebt und sich mit Frauen umgibt, war erstmals 1891 nach Deutschland gekommen. Er schrieb für linke Zeitungen unter wechselnden Pseudonymen und traf sich mit allen führenden Kommunisten seiner Zeit: Rosa Luxemburg, Karl Kautsky, Lenin und Leo Trotzky. Wegen seines unsozialistischen Lebensstils misstrauten ihm die Genossen jedoch.
Nach dem Blutsonntag am 22. Januar 1905, bei dem der Zar auf Demonstranten in Petersburg schießen ließ und weit über 200 Menschen dabei getötet worden waren, gehörten Helphand und Trotzky zu den ersten russischen Exilanten, die in die Heimat zurückkehrten. Sie setzten sich an die Spitze der Räte, wurden aber nacheinander von der Polizei verhaftet.
Helphand landete als Häftling in Sibirien, konnte fliehen und wurde in Konstantinopel durch ein Firmen-Imperium ein reicher Mann. Sogar Banken gehörten ihm. Was dazu führte, dass sich seine alten kommunistischen Freunde von ihm abwandten. Trotzky schrieb sogar einen "Nachruf auf einen lebenden Freund". Doch mit Kriegsausbruch 1914 ist die Gelegenheit für Parvus gekommen, Einfluss zu nehmen. Nach seinem Besuch beim deutschen Botschafter im Osmanischen Reich wird er schon im Februar 1915 in Berlin im Auswärtigen Amt empfangen.
Die russische Revolution auf 23 Seiten
Der russische Kommunist mit publizistischer Vita aus Deutschland und unternehmerischen Erfolgen in Konstantinopel verfasst für das Auswärtige Amt ein Drehbuch für eine Revolution. Es ist der Fahrplan für das, was nur Monate später tatsächlich passiert. Helphand beschreibt auf 23 Schreibmaschinenseiten detailliiert, wie ein Umsturz gelingen kann, der von außen unterstützt wird. Es geht um Geld, Sabotage, den Sturz der Regierung. Einen Monat später bewilligt das Reichsschatzamt zwei Millionen Mark "zur Unterstützung der revolutionären Propaganda in Russland".
Und Helphand ist auch persönlich aktiv. Geschäftliche Interessen und politische Ziele sind kaum zu trennen. Er ist der klassische Kriegsgewinnler. Er handelt mit allen und mit allem: Waffen, Metalle, Kognak, Kaviar, Stoffe. Weil der Weg nach Osten durch die Front ausscheidet, schmuggeln seine Helfer über ein schwedisches Dorf an der finnischen Grenze, damals ein Großfürstentum im Russischen Reich. Die Grenzer sind bestochen und wissen Bescheid.
Wenn der Losungssatz: "Ich bringe Grüße von Olga" ertönt, erhalten die russischen Revolutionäre nicht nur Propagandamaterial. Auch Waffen und Dynamit wechseln die Grenze. Mit den "deutschen Geschenken" werden Schiffe in Archangelsk versenkt und Häfen in Brand gesetzt. Koordiniert werden Parvus' Aktionen vom deutschen Botschafter in Kopenhagen, Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau, der hält die Unterstützung der Kommunisten für gerechtfertigt, wenn dadurch die Kriegskoalition gesprengt werde.
Mit russischem Geld Deutschland revolutionieren?
Helphands tollkühner Plan geht letztlich auf. Am 7. November 1917 kommt es zum Umsturz, der als Oktoberrevolution in die Geschichte eingeht. Die Übergangsregierung wird gestürzt, die Sowjets ergreifen die Macht und Russland kündigt Wochen später das Entente-Militärbündnis mit Frankreich und der britischen Krone auf. Es ist das faktische Kriegsende für das Land. Kaiser Wilhelm II. lässt sich die Schwächung des Kriegsgegners Russland nach heutigem Gegenwert rund eine halbe Milliarde Euro kosten.
Parvus selbst fungiert direkt als Mittelsmann des deutschen Kaisers. Er war ein "Zuhälter des Imperialismus", verurteilt die deutsche Marxistin Clara Zetkin posthum den Mann, der Lenin zur Revolution verhalf. Helphand stirbt 1924 mit nur 57 Jahren in Berlin an einem Schlaganfall. Über seine historische Rolle wurde sowohl von den Sowjets als auch im deutschen Kaiserreich der Mantel des Schweigens gelegt.
Lenin, als Empfänger kapitalistischer Unterstützung unter Russlands Kommunisten kurzzeitig diskreditiert, ging nach den Morden an der Zarenfamilie am 17. Juli 1918 in die Offensive. Er werde oft beschuldigt, den Umsturz nur mithilfe von deutschen Geldern geschafft zu haben, erklärt er auf einer Parteisitzung. Das habe er nie geleugnet, kontert er. "Ich will jedoch hinzufügen, dass wir mit russischem Geld eine ähnliche Revolution in Deutschland inszenieren werden."