Uwe Timms neuer Roman "Ikarien"
14. Oktober 2017Timm entwirft in "Ikarien" ein faszinierendes literarisches Puzzle: Der US-amerikanische, deutschstämmige Lieutenant Michael Hansen kommt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Teil der alliierten Truppen nach Deutschland. Sein Auftrag: Er soll die Geschichte von Alfred Ploetz aufarbeiten. Ploetz, gestorben 1940, war ein berühmter Wissenschaftler und Mitbegründer der Eugenik, einer Teilwissenschaft der Humangenetik mit dem Ziel, die Ausbreitung von Genen mit ungünstigen Eigenschaften einzuschränken. Auf der Eugenik baute auch die nationalsozialistische Theorie der Rassenhygiene auf. Hauptquelle der Recherchen Hansens sind die Gespräche mit einem erfundenen ehemaligen Mitarbeiter von Alfred Ploetz, einem alten Mann namens Karl Wagner, der sich später von Ploetz abgewandt hatte.
Deutsche Welle: Sie haben lange an dem Roman gearbeitet, das Thema schon seit Jahren im Kopf. Was hat Sie an der Geschichte des Wissenschaftlers Alfred Ploetz (1860 - 1940) so interessiert?
Uwe Timm: Tatsächlich ist das Kernthema des Romans die Figur des Alfred Ploetz, der einmal Sozialist und Kommunist war und dann in die Medizin gewechselt ist. Er war ein Mitbegründer der Eugenik, später der Euthanasie (Sterbehilfe an unheilbar Kranken - von den Nationalsozialisten wurde der Begriff im Rahmen der "Rassenhygiene" für die Morde an Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen missbraucht, Anm. der Red.). Ich habe mich gefragt, wie kann das sein? Dass so jemand, der für eine Gesellschaft eingetreten ist, die für Gleichheit, aber auch für einen humanen Zusammenhalt eintritt, zum Mitbegründer der Rassenhygiene wird? Das ist es ja tatsächlich, der Schritt, der daraus entwickelt wurde: Aus der Eugenik zur Rassenhygiene - und das bedeutete später Euthanasie! Und die Verlängerung der Euthanasie war Auschwitz.
Ja, wie kann das sein? Wie passte beides zusammen?
Die Eugenik war auch für die Sozialisten sehr interessant, weil es folgende Überlegungen gab: Wie kann man eine Gleichheit schaffen, die nicht nur eine soziale Gleichheit ist, sondern auch ein Menschenbild angleicht. Das war natürlich schon vom Grundsatz fatal. Bei Alfred Ploetz ist das Interessante, dass der engagierte, energische Kämpfer für Gleichheit und Gerechtigkeit, die ja auch immer ein Moment der Freiheit bedeutet, nämlich Gerechtigkeit dem einzelnen Individuum gegenüber, dass der dann als Naturwissenschaftler, als Mediziner, in so eine ganz andere Richtung gekommen ist.
…wobei die Eugenik im 19. Jahrhundert, aber auch später, kein rein deutsches Phänomen war.
Das ist damals weit verbreitet gewesen. Die ersten Zwangssterilisationen der Eugenik gab es in US-Staaten, es gab Zwangssterilisationen in Dänemark 1924, unter einer sozialdemokratischen Regierung. Und es gab Zwangssterilisationen noch in Amerika in den 1950er Jahren. Auch in Schweden gab es sie noch, 1956. Es ist ein eigentümlicher, strenger naturwissenschaftlicher Ansatz gewesen, der sich nicht von irgendwelchen Menschlichkeiten beeinflussen ließ. Ich habe ein Zitat von Darwin im Roman: "Ein Forscher muss ein Herz aus Stein haben." Er "muss" also seinen Forschungsweg gehen. Das hat Alfred Ploetz so gemacht.
Die Wissenschaftler gingen damals alle davon aus, dass eine Degeneration stattfindet bei den Menschen. Diese Degeneration sahen sie damals auch, weil die Menschen in vielen Städten krank waren. Sie sahen aber nicht die sozialen Gründe dafür, enge Straßen in den Städten, wenig Licht, Infektionen. Das wurde davon abgespalten und alles allein auf die Vererbungslehre geschoben. Das war ein fataler Ansatz.
Ich vermute, dass Sie, wenn Sie einen Roman über einen historischen Prozess schreiben, wahrscheinlich auch immer aktuelle Bezüge im Kopf haben?
Dieser eingeengte naturwissenschaftliche Blick ist wirklich eine Gefahr. Das reicht bis heute. Das muss man heute natürlich nicht mehr so umständlich machen, wie damals bei "Lebensborn" (ein nationalsozialistischer Verein, der "arische" Kinder nach "rassenhygienischen" Vorstellungen züchten wollte, Anm. der Red.). "Lebensborn" war ja die Fortführung, die Realisierung: Es sollten blonde, blauäugige Menschen gezüchtet werden.
Heute kann man das machen, indem man mit einer Schere durch die Chromosomen geht. Das muss diskutiert werden. Es muss diskutiert werden, wo eine rote Linie gezogen werden muss. Die ist heute in vielen Bereichen schon überschritten. Die Naturwissenschaftler müssten sich in eine politische Diskussion der Verantwortung hineinbegeben, meinetwegen auch der Moral. Das geschieht aber nicht. Charles Darwin oder Ploetz dachten damals, die Wissenschaft würde das alles schon richten. Politische und moralische Überlegungen wurden beiseitegeschoben.
Sie schauen ja besonders auf diese merkwürdige Verknüpfung von Eugenik und sozialistischen Ideen - warum?
Ja, natürlich. Ich komme ja aus der 68er-Bewegung (politisch links gerichtete Studentenbewegung in den 1960er-Jahren, Anm. der Red.). Da gab es ja auch Versuche, Kommunen zu installieren. Ich kenne die Leute, die da mitgearbeitet haben, die das versucht haben. Das kam damals wieder auf. Das ist natürlich genau die interessante Frage: Wie sehen diese utopischen Modelle aus?
Die Ikarier von Étienne Cabet, einem Sozialutopisten aus dem 19. Jahrhundert, haben das ja entwickelt: "Die Reise nach Ikarien" (Roman von Étienne Cabet, erschienen 1840, Anm. der Red.) ist die Beschreibung einer Kommune, die ganz rational durchgeplant ist. Étienne Cabet war von René Descartes beeinflusst. Da gab es keine Konflikte mehr, weil alle gleich waren und alle die gleichen Bedingungen hatten. Das stimmt natürlich nicht: Es wurden die Emotionen übersehen, die Gefühle der Menschen. Die kann man nicht so einfach abschneiden.
…und da kommt dann Alfred Ploetz wieder ins Spiel.
Diese Verbindung, die Utopie einer Züchtung des Menschen, wie Ploetz das vorschwebte, einer Art Übermensch, einer Hochzüchtung, war gekoppelt mit dieser Utopie der sozialen Gleichheit. Ploetz ist 1884 nach Amerika gefahren und hat eine Kommune der Ikarier besucht.
In Ihrem Roman erzählt der ehemalige Weggefährte von Ploetz, der spätere Dissident Karl Wagner, in vielen Gesprächen, die in der Erzählung eingeflochten sind, von Ploetz und seinen Vorhaben. Doch Wagner entfernt sich irgendwann von seinem Lehrer, zieht andere Schlüsse…
Dieser Wagner ist ja eine fiktionale Gestalt, die ich Ploetz zur Seite gestellt habe. (Ploetz und Wagner reisen im Roman zu einer Ikarier-Kommune nach Amerika, die allerdings gescheitert ist und sich auflöst, Anm. der Red.) Wagner und Ploetz ziehen daraus unterschiedliche Schlüsse. Ploetz sagt: Ich muss den Menschen durch Vererbung verändern. Wagner hingegen beharrt auf dem sozialen Aspekt, wird später Sozialdemokrat und Anarchist.
Sie siedeln das Romangeschehen mit dem US-Lieutenant Michael Hansen 1945 an, Deutschland liegt in Trümmern, Hansen beugt sich über die deutsche Geschichte. Warum verorten Sie das gerade in dieser Zeit?
Ich bin 1940 geboren, ich habe die Zeit erlebt. Das war ganz wesentlich, ich habe ganz lange überlegt, wie ich diesen Stoff erzählen kann. Das ist mir erst in dem Moment gelungen, als ich dieses Jahr 1945 als Zeitebene genommen habe: Ein deutschstämmiger, amerikanischer Leutnant kommt nach Deutschland und erlebt die letzten Kriegstage, bekommt den Befehl, diesen Begleiter von Ploetz zu befragen.
Das ist ein Teil meiner eigenen biografischen Erfahrung. Ich habe erlebt, wie 1945 die Stadt Coburg von den amerikanischen Soldaten erobert wurde. Und ich kann immer nur wieder sagen: Das war für mich eine starke Erfahrung, weil die Erwachsenen sich damals von heute auf morgen veränderten. Diese ganzen autoritären Leute, die waren mit einem Mal ganz klein, die waren ängstlich, waren plötzlich leise.
Und die Amerikaner waren so ganz anders als die deutschen Soldaten. Die kamen plötzlich an, haben uns Kaugummis geschenkt und Schokolade. Vor allem dieses zivile Verhalten hat mich als Kind wirklich unglaublich beeindruckt, diese Lässigkeit, auch in der Sprache. Später hat sich das darin gezeigt, dass ich mich für Jazz interessiert habe, für amerikanische Bücher, Filme, wir haben angefangen, Jeans zu tragen. Wir alle sind bis heute beeinflusst durch diesen Mentalitätsbruch 1945.
Eine Faszination, die später aber wieder gebrochen wurde. Sie haben es erwähnt, Sie waren Teil der 68er-Bewegung…
Ja, das hat sich 1967/68 geändert, als wir den Vietnam-Krieg erlebt und dagegen protestiert haben. Da war diese Utopie nicht mehr positiv, sondern da gab es dann schon diesen imperialen Anspruch.
Und heute? Was sagen Sie zum Amerika des Donald Trump?
Heute finde ich das unheimlich, ich finde das wirklich unheimlich. Man kann nur hoffen, dass dieser Trump, der ja sowas von irrational und kenntnislos ist, der das Land ja wirklich wie sein Immobilien-Imperium führt, man kann nur hoffen, dass die US-Institutionen, die es gibt, ihn so zügeln, das er nicht plötzlich zur Atombombe greift.
Uwe Timm: Ikarien, 512 Seiten, Verlag Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3-462-31685-8.