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Deutsche Literatur 2013 - Themen und Formenvielfalt

Jochen Kürten12. Oktober 2013

Gibt es einen Trend bei der deutschsprachigen Literatur in diesem Herbst? Ist es der Beziehungsroman oder das Thema Tod? Wo könnte man diesem besser nachspüren als auf der Frankfurter Buchmesse.

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Ein Besucher der Buchmesse vor dem Stand eines großen deutschen Verlags beim Betrachten der Bücher (Foto: Jochen Kürten) Copyright: DW/Jochen Kürten
Bild: DW/J. Kürten

"Trends sind immer notwendige Konstruktionen des Feuilletons", sagt Richard Kämmerlings. Der Literatur-Chef der Tagezeitung "Die Welt" verfolgt die deutschsprachige Literatur seit Jahren. Natürlich suche man nach einem roten Faden, sagt Kämmerlings: "Man braucht Themen, um Ordnung zu schaffen."

Nicht ganz einverstanden ist Kämmerlings mit der Auswahl der diesjährigen Shortlist zum Deutschen Buchpreis: "Das ist nicht repräsentativ". Da sei ein sehr strenger Literaturbegriff angewendet worden. 2009 war Kämmerlings selbst Mitglied der Jury, kennt somit die Mechanismen einer solchen Preisvergabe. "Die Longlist war sicher repräsentativ für die verschiedenen Strömungen in der deutschsprachigen Literatur, in der Longlist waren auch Titel für ein größeres Publikum." Die seien in der Shortlist nicht mehr dabei gewesen.

Die Shortlist - schwierige Lektüre

Richard Kämmerlings

Diesem Urteil schließt sich Olaf Petersenn vom Verlag Kiepenheuer & Witsch an. Petersenn ist seit vielen Jahren Lektor für deutschsprachige Literatur, betreut Autoren wie Uwe Timm, Joachim Meyerhoff oder die junge Alina Bronsky. Auch er sieht in der Auswahl der sechs Titel der Shortlist eine starke Fokussierung auf streng ästhetische Kriterien. "Die Jury hat vor allem auf Sprachvirtuosität geschaut."

Und dann nennt Richard Kämmerlings doch ein Thema, auf das er bei der Lektüre öfters gestoßen ist: "Mir ist aufgefallen, dass sich sehr viele Romane mit dem Thema Tod, mit Trauer, Depression und Selbstmord beschäftigen." Das sei sicher eine interessante Beobachtung, aber auch kein Trend.

Evergreen Beziehungsromane

Und was sagen die Schriftsteller? Auch hier hat man eine schier unendlich große Palette von Autoren, die inhaltlich wie ästhetisch ihre Leser suchen. Uwe Timm hat im Herbst den Roman "Vogelweide" vorgestellt, eine klassisch anmutende Beziehungsgeschichte, die zwei Paare in den Mittelpunkt stellt. Warum hat er sich - nach mehreren Romanen mit eher politischer Grundierung - nun dem Beziehungsroman zugewandt: "Beziehungen sind doch auch politisch", meint Timm, "sie sind immer in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu betrachten." Ihn habe es gereizt, "darüber nachzudenken, wie Emotionen sich heute entwickeln."

Uwe Timm

Vor einigen Jahren waren es Familienepen, die die Autoren bevorzugten. Noch ein paar Jahre zuvor Romane junger Debütantinnen und Debütanten, die ihre autobiografisch gefärbten Adoleszenzen zum Besten gaben. Heute trifft man häufig auf Texte, die das Zusammensein von Mann und Frau durchdeklinieren. Uwe Timm: Archaische Gefühle wie Liebe und Hass seien doch auch heute noch hoch aktuell: "Jeder erlebt das doch in seinem Leben."

Sucht man hingegen nach Romanen, die sich dem Thema Geschichte widmen, wird man kaum fündig. Auf das Thema 1. Weltkrieg, das in diesem Herbst von so vielen Sachbuchautoren aufgegriffen wird, trifft man nicht. "So tickt Literatur nicht", sagt Richard Kämmerlings und fügt hinzu: "In der deutschen Literatur war der 1. Weltkrieg auch nicht so das Thema wie in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Großbritannien, wo das als nationales Trauma viel stärker bis in die Gegenwart fortwirkt."

Bizarre deutsche Kolonial-Episode

Lukas Hartmann dürfte einer der wenigen deutschsprachigen Autoren sein, die in diesem Herbst mit einem historischen Stoff auf dem Markt sind. Sieht man einmal ab von den vielen dickleibigen historischen Unterhaltungsromanen, die aber eher ein Fantasy und TV-Movie geschultes Publikum ansprechen. "Abschied von Sansibar" heißt Hartmanns neuer Roman. Vor dem Hintergrund der Ende des 19. Jahrhunderts zum Deutschen Kaiserreich gehörenden Insel Sansibar entwirft der Autor eine Erzählung zwischen Historie und persönlichen Schicksalen: "Mich hat das Ineinander von individueller Geschichte und der großen sogenannten übergeordneten Geschichte immer interessiert: Wie Schicksale durch die Geschichte geprägt werden."

Und dann ist da noch Galsan Tschinag, die vielleicht ungewöhnlichste Stimme unter den deutschsprachigen Autoren. Tschinag wurde 1943 in der Westmongolei geboren, ging in den 1960er Jahren für ein Germanistik-Studium in die DDR und schreibt seitdem auf Deutsch: "Die Deutsche Sprache war meine Rettung", erzählt Tschinag, "sie hat mich vor der Bedeutungslosigkeit gerettet. Wäre ich in der Mongolei geblieben, wäre ich in der Anonymität verschwunden."

Das Individuum in der globalen Welt

Tschinags neuer Roman heißt "Der Mann, die Frau, das Schaf, das Kind", eine Parabel auf das Leben der Menschen zwischen Großstadt und Land, zwischen Moderne und Tradition: "Mich beschäftigt, wie es ist, wenn Menschen am falschen Ort leben." Tschinag stellt in seinem Buch die Frage, wie Menschen in den modernen Metropolen einer globalen Welt zurechtkommen, wie sie überleben können.

Galsan Tschinag, Schriftsteller aus der Mongolei, der in Deutsch schreibt (Foto: dpa)
Galsan TschinagBild: picture-alliance/dpa

Ein Beziehungsroman, ein Blick in die Kolonialgeschichte und ein philosophisch anmutendes Buch über den Sinn des Lebens - drei Romane unter hunderten, ebenso wenig repräsentativ wie die Auswahl zum Deutschen Buchpreis. Aber genau das dürfte dann auch der Trend des Jahres 2013 sein. "Die deutsche Literatur ist derzeit ist so vielfältig und reichhaltig, es gibt so viele Generationen von Autoren, die parallel publizieren", sagt Olaf Peterseen und verweist auf die Generation der Älteren um Günter Grass und Martin Walser, eine mittlere Generation, zu der auch noch Uwe Timm gehört, sowie auf die nachwachsenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in der Long- und Shortlist stark vertreten sind.

Die Suche nach Orientierung

Wer also nach Orientierung im Dschungel der deutschsprachigen Erzählungen und Romane sucht und sich in den tausenden Titeln verliert, der kann sich mit Galsan Tschinag trösten. Tschinag, der heute als Stammesoberhaupt und Schamane wieder in seiner Heimat lebt, sagt: "Die Frankfurter Buchmesse ist die Hölle, eine Bücherhölle." Ein Buch sei schön, wie auch ein Mensch schön ist. "Aber viele Bücher sind genauso bedrohlich wie große Menschenansammlungen."