Ishiguro: Mit Fantasy die Geschichte erkunden
5. Oktober 2017DW: Das deutsche Feuilleton fragte sich, ob Kazuo Ishiguro jetzt "auf 'Game of Thrones' macht". Wie finden Sie diese Frage?
Kazuo Ishiguro: Sie kann vielleicht bewirken, dass der Buchverkauf ein bisschen steigt, aber ich fürchte, dass mein Roman den "Game of Thrones"-Fans nicht unbedingt gefallen würde. Ich habe "Der begrabene Riese" niemals mit der Absicht begonnen, ein Buch wie Tolkien oder eines wie "Game of Thrones" zu schreiben. Das kam aus einer ganz anderen Ecke: Ich war zuerst sehr versucht, meinen Roman in einer modernen, realistisch wirkenden Umgebung anzusiedeln.
Jetzt spielt Ihr Buch im fünften Jahrhundert in Britannien. Warum haben Sie diese Zeit und diesen Handlungsraum gewählt?
Niemand weiß wirklich, was sich in dieser Periode ereignete, und das hatte für mich einen großen Reiz. Da gibt es in der britischen Geschichtsschreibung eine Lücke von etwa einhundert Jahren – eine Art Erinnerungslücke. Es existieren kaum historische Spuren aus dieser Zeit. Und das gibt mir als Romanautor eine gewisse Freiheit.
"Der begrabene Riese" ist kein Geschichtsbuch, sondern ein sehr unterhaltsamer Roman. Ist er reine Fantasy?
Wenn ich ein Buch schreibe, dann denke ich tatsächlich niemals bewusst über sein Genre nach. Bei meinen Büchern steht am Anfang immer eine Idee, der ich Ausdruck geben will – das ist für mich der Ausgangspunkt. Und diese Idee ist sehr oft noch nicht in Raum und Zeit verankert. Das sind vielfach zunächst Gedanken, die ich mir notiere. Diesmal waren eben Drachen und Menschenfresser die Elemente, von denen ich annahm, dass sie für meinen Roman am besten funktionieren würden – also habe ich sie als Werkzeuge gebraucht.
Die zentrale Frage, die ich mir bei diesem Roman gestellt habe, war: Wann ist es besser für eine Nation, dunkle Abschnitte seiner jüngeren Geschichte zu vergessen, und wann ist es besser, sich den schlechten Erinnerungen zu stellen? Wann sollte man vergessen, wann sich erinnern? Ich wollte eine Geschichte schreiben, die fast wie ein altes Volksmärchen klingen sollte, um damit anzudeuten, dass das etwas ist, was die Menschen schon ihre ganze Geschichte hindurch bewegt hat. So lange es uns als menschliche Wesen gibt, haben wir uns in Stämmen organisiert und uns mit der Frage unseres sozialen Gedächtnisses herumgeschlagen. Diese Frage kehrt immer und immer wieder zurück, um die Menschheit heimzusuchen.
Ist das nicht eine sehr belastende Frage für einen Roman, der als Fantasy-Geschichte daherkommt?
Der Roman ist auch eine Liebesgeschichte. Mir geht es nicht allein darum, ob sich Nationen erinnern oder Negatives vergessen sollten. In vielen Familien und vielen Ehen gibt es dunkle Episoden, die von allen Beteiligten bereitwillig vergessen werden, damit das Band untereinander wieder stärker werden kann. Aber dieselbe Frage stellt sich auch da: Wie lange kann man im Schweigen verharren? Kann man es für immer dabei belassen? Wahrscheinlich nicht – an irgendeinem Punkt tauchen die dunklen Seiten wieder auf.
Ein sehr wichtiger Aspekt meines Romans ist die Geschichte eines alten Paares, das sein Gedächtnis verloren hat. Und es möchte seine Erinnerungen zurück. Aber die beiden haben auch Angst, was geschehen könnte, wenn zusammen mit den guten auch die schlechten Erinnerungen zurückkommen. Wird das ihre Liebe zerstören? Sie leben noch dazu in einer Gesellschaft, die von zurückkehrenden Erinnerungen bedroht wird – das Wiederauftauchen der Erinnerungen kann zu einem Bürgerkrieg führen.
Davon handelt die Geschichte des "Begrabenen Riesen": Eine rätselhafte Vergesslichkeit hat das Land befallen – aber möchten die Leute, dass ihre Erinnerungen zurückkehren, oder wollen sie es lieber nicht?
Haben Sie eine Antwort gefunden?
Ich habe nicht wirklich nach einer Antwort gesucht. Denn mir war von Anfang an klar, dass es keine einfache Antwort gibt. Ich wollte den Lesern nur diese Frage stellen: Ist das nicht eine der zentralen Fragen, mit der wir uns unser Leben lang herumschlagen, sowohl auf nationaler Ebene wie auch als Individuen?
Man könnte den Eindruck haben, Ihr Roman lege nahe, dass es für eine Gesellschaft nicht immer gut ist, sich zu erinnern und alles offen zu diskutieren. Stimmt das?
Alle Länder, die mir so einfallen, haben irgendwas aus ihrer Geschichte begraben. Da gibt es fast so etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft, nicht darüber zu sprechen. Und manchmal gibt es dafür auch einen sehr guten Grund, wenn nämlich durch das Schweigen der Kreislauf von Krieg und Gewalt unterbrochen werden kann. Es kann eine Gesellschaft vor dem endgültigen Auseinanderbrechen retten. Und das Gleiche kann auch für eine Familie oder eine Ehe gelten.
Mein Roman behauptet nicht, dass es gut sei zu vergessen, oder dass wir uns grundsätzlich immer erinnern sollten. Als Schriftsteller geht es mir nicht darum, irgendeine These zu vertreten. Was ich versuche ist, die Gefühle ganz normaler Menschen, die in einem solchen Dilemma gefangen sind, zu beschreiben. Ich schreibe meine Romane nicht, um irgendein Argument vorzutragen. Wenn das meine Absicht wäre, würde ich eher einen klar formulierten Artikel schreiben.
Dass man sich immer und ohne Unterlass erinnern müsse, wird oft von politischen Führern behauptet, die den Hass in einer Gemeinschaft bewahren und einen Krieg verlängern wollen. Für Deutsche bestand an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte die Gefahr, sich nicht genug zu erinnern. Es kann aber auch sehr gefährlich sein, dass das gesellschaftliche Gedächtnis als Waffe eingesetzt wird, um Hass und Militarismus zu schüren.
In Deutschland ist man sehr davon überzeugt, dass wir uns unserer Vergangenheit sehr bewusst sein sollten. Unser historisches und kulturelles Gedächtnis ist oft Thema. In Asien ist das ganz anders, da erzählen einem die Menschen oft, dass man es sich nicht leisten könne, zurück zu schauen, dass man den Blick auf die Zukunft richten müsse. Ist Ihr Roman eine Diskussion dieser Gratwanderung?
In gewisser Weise, ja. Wir Menschen haben immer darum gekämpft, da eine Balance zu finden. Wie viel Vergessen ist wünschenswert? Und wie viel Erinnern? Da wir uns in Deutschland unterhalten, möchte ich sagen, dass ich finde, dass West-Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein Beispiel dafür ist, dass dieses Gleichgewicht fast perfekt erreicht wurde. Aber ich denke, dass es Zeiten gibt, in denen es notwendig ist zu vergessen, um einer Gesellschaft den Wiederaufbau zu ermöglichen, oder nicht in Bürgerkrieg und Zerfall zu versinken. Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, wie man diese Balance findet.
Zu viel zu vergessen bedeutet, dass schreckliche Ungerechtigkeiten ungestraft bleiben und sich bei vielen Menschen, die gelitten haben, enormer Hass und Ärger anstaut. Wenn man sich aber zu viel erinnert, kann eine Gesellschaft in einen nie endenden Zyklus von Rache und Hass geraten. Und wir erleben das zurzeit in vielen Teilen der Welt, zum Beispiel im Mittleren Osten, dass dieser Zyklus einfach nicht unterbrochen werden kann. Da wäre ein Gedächtnisverlust vielleicht das Allerbeste. Nur damit der Frieden eine Chance erhält.
Migration ist das vorherrschende Thema unserer Tage, aber sie hat sich die gesamte Geschichte hindurch ereignet. Ihr Roman ist eine historische Fantasy-Geschichte, die am Ende der Eisenzeit spielt, als die römisch-keltische Macht von den einwandernden Angelsachsen verdrängt wurde. Kann Ihr Buch auch als Kommentar zum Zeitgeschehen gelesen werden?
Ich habe schon vor fünfzehn Jahren mit der Arbeit an diesem Roman begonnen, also bezieht er sich ganz offensichtlich nicht auf die aktuelle Flüchtlingskrise. Aber als ich mich mit den ersten Gedanken an diesen Roman trug, dachte ich dabei an das zerfallende Jugoslawien und besonders daran, was sich damals in Bosnien ereignete, wo zwei Gruppen von Menschen, die zumindest für eine Generation friedlich zusammengelebt hatten, sich plötzlich gegenseitig bekämpften und schreckliche Gewalt ausbrach. Und dasselbe passierte 1994 in Ruanda.
Wie kann es sein, dass in einer Nation, in der die Menschen verschiedener Traditionen und Religionen anscheinend gelernt haben, friedlich nebeneinander zu existieren und sogar freundlich miteinander umzugehen, plötzlich irgendetwas passiert – oftmals ausgelöst von dunklen Erinnerungen an eine eigentlich in der Vergangenheit liegende Feindschaft – und grauenhaft Gewalt bricht aus? Das war meine Ausgangsfrage.
Mein Roman handelt von Kriegen, also vielleicht gerade von den Dingen, die Flüchtlinge produzieren. Wir sehen die Flüchtlinge als eine Art Symptom, aber der Kern der Probleme sind Kriege und enorme, gewaltsame Streitigkeiten. Das ist die Gewalt, die die Menschen zwingt, ihr Zuhause aufzugeben und auf der Suche nach Sicherheit große Risiken, ja sogar den Tod in Kauf zu nehmen.
"Der begrabene Riese" von Kazuo Ishiguro ist am 31. August 2015 im Karl Blessing Verlag erschienen. Das Interview führte Sabine Peschel 2015.