Internet für Flüchtlinge: Chatten mit der Heimat
30. Juli 2015"Ihr habt sechs Stunden Zeit, um 158 Flüchtlinge unterzubringen". Das war die Botschaft eines Anrufs, der die Bürgermeisterin der Stadt Witten Ende Juli um 12 Uhr erreichte. Um 18 Uhr sollten die ersten Flüchtlinge in der Ruhrgebietsstadt eintreffen. In sechs Stunden musste für über 150 Menschen eine Notunterkunft mit Feldbetten, Toilettenwagen und einer Küche organisiert werden. Die Leitung übernahm das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Gemeinsam mit der Feuerwehr, dem Arbeiter-Samariter-Bund und dem Technischen Hilfswerk verwandelte das DRK eine Turnhalle in eine Notunterkunft.
Für Tanja Knopp, Kreisrotkreuzleiterin, war klar: Auf Dauer könnten sie die Hilfe für die Flüchtlinge nicht alleine stemmen. Der Kreisverband des Roten Kreuzes startete deshalb über seine Facebook-Seite einen Hilfeaufruf. "Ich könnte Samstag helfen", hieß es daraufhin von Facebook-Nutzern. Andere fragten: "Welche Hilfe wird benötigt?". Rund 300 Freiwillige haben sich mittlerweile gefunden - vor allem über das Internet.
Tanja Knopp ist besonders von dem Dialog begeistert, der dort entsteht. "Wir können kommunizieren, dass wir spezielle Dinge brauchen", sagt sie. Wenn zum Beispiel drei Kinderwagen gebraucht werden, gibt es einen Aufruf über die Facebook-Seite des DRK. Sobald sich die Leute melden, wird genau geklärt, wer von ihnen einen Kinderwagen mitbringt. "Wir sagen dann: 'Bitte bringt sie nicht einfach vorbei'. So lässt sich das gut steuern", erklärt die Ehrenamtlerin.
Nach Hause schreiben
Aber nicht nur für die Flüchtlingshilfe spielt das Internet in Witten eine große Rolle. Die Ruhrgebietsstadt hat zwar nicht einmal 100.000 Einwohner, aber in manchen Dingen ist sie anderen größeren Städten weit voraus: Witten hat ein relativ dichtes WLAN-Netz in der Stadt, das durch die "Freifunk"-Router vieler Bürger ermöglicht wird. Auf öffentlichen Straßen und Plätzen können die Menschen so kostenlos ins Internet. Deshalb legte die Stadt auch bei der Notunterkunft großen Wert auf einen Internetzugang für die Flüchtlinge. Bereits nach weniger als zwei Tagen organisierte Astrid Raith, Leiterin des Projekts "e-Government" der Stadt Witten, mit ihren Kollegen kostenloses WLAN für die Flüchtlinge.
Nach der langen, oft sehr gefährlichen Reise suchen viele Flüchtlinge den Kontakt zu ihren Familien. Doch in der Notunterkunft haben sie natürlich noch keine deutschen Handyverträge mit mobilem Internet. "Wir haben Menschen gesehen, die mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht sofort die Chance genutzt haben, um Kontakt mit der Heimat aufzunehmen und zu sagen 'ich bin heile angekommen'", freut sich Astrid Raith.
Für Raith ist das ein Grundbedürfnis des Menschen, das sie den Flüchtlingen nicht vorenthalten möchte. "Auch wir möchten von unseren Kindern hören, dass sie gut im Urlaub angekommen sind." Das sei aber natürlich nicht mit der schrecklichen Reise der Flüchtlinge zu vergleichen.
Raith erzählt lächelnd von einem Flüchtlingsjungen, den sie beobachtete, als die freiwilligen Helfer mithilfe einer Leiter gerade einen Router auf dem Toilettenwagen installierten. Der Junge habe den Sinn dieser Aktion direkt verstanden, sich ins Gras gelegt und ein kurzes Video für die Heimat aufgenommen. "Da habe ich fast angefangen zu heulen, weil das so schön war", erzählt Raith.
Besonders Facebook oder Whatsapp nutzen die Flüchtlinge als Kontaktmöglichkeit und verschicken so zum Beispiel Fotos. Denn auch wenn viele Flüchtlinge nicht einmal einen Rucksack dabei haben, wenn sie aus Kriegsgebieten fliehen: Ihr Smartphone passt in die Hosentasche und ist deshalb ein häufiger Reisebegleiter. Für Astrid Raith ist das völlig verständlich: "Wenn ich von jetzt auf gleich fliehen müssten, dann würde ich überlegen: Was nehme ich mit? Einen Rest Geld, meine Papiere und natürlich mein Handy."
"Gespendetes" Internet
Das Freifunk-Netz versorgt die über 150 Flüchtlinge in der Notunterkunft mit WLAN. Passend zur Wittener Willkommenskultur heißen die Router "Refugeeswelcome". Der nicht-kommerzielle Freifunk ist genau wie die Flüchtlingshilfe der Ehrenamtlichen darauf angewiesen, dass Leute mitmachen. Um auch dafür Freiwillige zu finden, nutzten die Wittener wieder einmal das Internet. "Für uns war völlig klar, dass das über Facebook läuft", sagt Astrid Raith. Den Aufruf über das soziale Netzwerk startete Raith am späten Donnerstagabend. Die erste feste Zusage hatte sie am Freitagmorgen um 7 Uhr.
Eine Eventfirma gleich in der Nachbarschaft zur Turnhalle "spendete" einen Teil ihres Internets, damit es über einen anderen Router als Freifunk für die Flüchtlinge genutzt werden konnte. So entsteht durch mehrere Spender über die Router ein neues, kostenloses WLAN-Netz. Auch eine Kneipe nebenan stellte einen Teil ihres Internetanschlusses zur Verfügung. Viele andere Facebook-Nutzer nannten ihre Adresse und fragten: "Reicht das noch?". Einige von ihnen, die ihr Internet spenden wollten, wohnten aber zu weit entfernt von der Halle, sodass der Empfang nicht ausreichte.
Internet kommt an
Für einen Flüchtling aus Syrien ist der Kontakt zur Heimat wichtig, jedoch schwierig aufrechtzuerhalten. Durch das Freifunk-Netz kann er zwar kostenloses Internet nutzen, seine Familie in Syrien hat aber oft sehr schlechtes Netz. Doch auch der Empfang in der Notunterkunft sei noch nicht ganz optimal: "Das WLAN ist doch relativ langsam", sagt der Mann. "Aber kein Wunder, bei über 150 Flüchtlingen auf einem Fleck." Die meisten Flüchtlinge sind aber erst einmal froh, überhaupt angekommen zu sein. Auch wenn sie noch nicht wissen, wie es weitergeht, schätzen sie die Hilfsbereitschaft der Wittener Bevölkerung.