Wie der IS das Leben einer Jesidin zerstörte
29. Januar 2016"Ich bin 18 Jahre alt. Und ich lebe noch. Dafür möchte ich Gott danken", schreibt die 18jährige Jesidin Shirin in ihrem Buch "Ich bleibe eine Tochter des Lichts". Das Licht ist in der Religion der Jesiden ein Symbol für Gott. In ihren Gebeten beziehen die Jesiden die Sonne und den Mond ein. Für Shirin war es die größte Sorge, nach alldem, was ihr widerfuhr, als "Entehrte" betrachtet zu werden. Denn Mädchen, die ihre Jungfräulichkeit verlieren, auch nach einer Vergewaltigung, werden vor allem von dem konservativen Flügel der Jesiden, einer Religion älter als das Christentum, verstoßen.
Shirin führte ein friedliches Leben im Nordirak
Shirin führte bis zu ihrem 17. Lebensjahr ein ganz normales Leben in dem kleinen Dorf Hardan im Nordirak an der Grenze zu Syrien. Ihr Buch ist eine Chronik, die beschreibt, wie die Terrorgruppe ISIS ihr Leben zerstört hat. "Muslimische Kurden, Araber und Jesiden gehörten für mich wie eine große Familie zusammen. Erst als die Terroristen die Macht ergriffen, wollten unsere Nachbarn plötzlich nicht mehr mit uns gemeinsam das Brot teilen."
Shirins beste Freundinnen waren Araberinnen. Shirin hatte große Pläne: Sie wollte Abitur machen und Rechtsanwältin werden. Ihre Familie unterstützte sie in ihrem Vorhaben, zu studieren. Doch als am 3. August 2014 IS-Kämpfer ihr Dorf eroberten, wurde ihr Leben auf den Kopf gestellt. Morgens um sieben Uhr wurde sie verschleppt. Auch für ihre Mutter, ihre beiden Schwester und ihren Bruder gab es kein Entkommen, als Terroristen ihr Dorf eingekesselten.
Den IS-Terroristen hilflos ausgeliefert
"Egal ob Handwerker, Lehrer oder Ärzte, alle unserer arabischen Nachbarn schienen sich offenbar der ISIS angeschlossen zu haben", beschreibt sie den größten Schock, nämlich, dass ihr vertraute Personen zu Tätern wurden. Jesiden werden vom Islam als Ungläubige stigmatisiert: "Da wir keine heiligen Bücher wie den Talmud, die Bibel oder den Koran haben, gelten wir unter radikalen Muslimen als Ungläubige." Die Journalistin Alexandra Cavelius hat Shirins Geschichte aufgeschrieben. Mehrere Tage lang führte sie Interviews mit der traumatisierten Frau. Shirins Lebenslust sei verschwunden, sagt Cavelius im Interview mit der DW. Auch nach dem Erscheinen des Buchs hält sie weiterhin zu Shirin Kontakt. Die Jesidin habe gewollt, dass die Welt vom Schicksal ihres Volkes erfährt. Deshalb habe sie ihr in allen Details ihre Leidensgeschichte mitgeteilt. Viele Tränen seien dabei geflossen, als sie von ihrer Odyssee durch den Irak berichtete: Zusammengepfercht hausten die entführten Jesiden, darunter viele Frauen und kleine Kinder, in einer Schule, dann in einem leer stehenden Gefängnis. Sie wurden misshandelt und vergewaltigt. Shirin blieb verschont, bis sie eines Tages von einem IS-Kämpfer als künftige Ehefrau ausgewählt wurde. Danach wurde die Familie auseinandergerissen. Shirin war den Schergen des IS hoffnungslos ausgeliefert. Neunmal wurde sie zwangsverheiratet, monatelang vergewaltigt.
"IS führt Krieg gegen Frauen"
Inzwischen wird Shirin in Baden-Württemberg psychologisch betreut. Aus Angst vor einer Entführung hält sie ihren richtigen Namen geheim. Der Traumaexperte Jan Kizilhan betreut sie und 1000 weitere Jesidinnen, die das gleiche Schicksal wie Shirin erlitten haben. Er kommentiert die Fluchtgeschichte Shirins. "Das ist ein Krieg gegen Frauen. Frauen werden genutzt, um neue Anhänger des IS anzuwerben. Sie werden systematisch zu Opfern gemacht", so Kizilhan. "Der IS benutzt gezielt sexuelle Gewalt, um Gesellschaften auseinanderzureißen, indem die IS-Milizen ihre wertvollsten Bestandteile vernichten. Wer eine Frau vergewaltigt, vergewaltigt auch eine Gemeinschaft und eine Familie."
Kein Ende des Terrors in Sicht
Shirin leidet unter Platzangst, sie kann nicht mit dem Bus fahren oder sich mit vielen Menschen in einem Raum aufhalten. An ihre Zukunft könne sie gar nicht denken, sagt Cavelius. Zu sehr sei sie mit dem Schicksal ihrer Familie beschäftigt: Die Mutter wurde nach Syrien verschleppt, die jüngere Schwester ist verschollen, ein Bruder ist tot. 500 Bewohner Hardans wurden bereits in Massengräbern gefunden. Mindestens 4000 Frauen und Kinder befinden sich zur Zeit in Geiselhaft des IS. Shirins Schicksal sei nur eins von vielen, so Cavelius. Das Heimatdorf Hardan sei komplett verwüstet, eine Rückkehr ausgeschlossen. Auch Psychologe Kizilhan glaubt nicht, dass der IS-Terror zu beenden ist. "Es ist nicht möglich, diese Terroristengruppen mit friedlichen Mitteln zu stoppen, weil es für sie keinen wirklichen Tod gibt." Und was ist mit Shirins Angst, von den Jesiden verstoßen zu werden? Die wurde ihr genommen, sagt Cavelius. Baba Scheich, das geistige Oberhaupt der Jesiden, hat allen Frauen, zugesichert, auch weiterhin zur Religionsgemeinschaft der Jesiden zu gehören, weil sie unschuldig für ihr Schicksal seien.