VW und die Krise der deutschen Volkswirtschaft
30. Oktober 2024Der Begriff "Zeitenwende" hat gerade Konjunktur. Von Bundeskanzler Scholz geprägt, um den neuen außen- und verteidigungspolitischen Anforderungen zu begegnen, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine entstanden sind, trifft er aktuell auch auf ganz andere Felder zu. Vor allem in der Wirtschaftspolitik - und Volkswagen ist ein herausragendes Beispiel für die aktuellen Herausforderungen.
Und dabei steht besonders die Automobilindustrie im Fokus. Die leidet nämlich unter dem schleichenden Bedeutungsverlust der Verbrennermotoren auf den großen Märkten (USA, China, Europa) und dem Umstieg auf die Produktion von Elektroautos. Die werden immer wichtiger, wie eine aktuelle Studie der Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) zeigt.
PwC erwartet, dass nicht nur die Anzahl der Zulassungen batterieelektrisch betriebener Fahrzeuge (BEV) in den nächsten Jahren deutlich zunehmen wird. Die Frankfurter Marktbeobachter zeigen auch, welche Modelle aktuell erfolgreich sind und welche nicht. Aus deutscher Sicht erschütternd: Teslas Model Y ist auf allen drei großen Märkten das mit Abstand meistverkaufte Auto. Die VW-Modelle rangieren nur unter "ferner liefen".
Audi prescht vor
Frank Schwope von der Fachhochschule des Mittelstands in Hannover sieht darin einen Grund für die Schieflage bei Deutschlands größtem Autobauer, Volkswagen. Auf eine entsprechende Frage der DW antwortet der Automobilexperte, dass dafür die "Disruption durch Elektromobilität und neue chinesische Konkurrenten" eine Rolle spielen. Laut Angaben von VW habe diese Disruption aktuell zu heftigen Gewinneinbußen geführt: Im dritten Quartal 2024 sei der Gewinn um fast 64 Prozent geringer ausgefallen als im Vergleichszeitraum des Vorjahres.
Als Antwort darauf wolle der Konzern, so das Handelsblatt, vor allem bei den Lohnkosten sparen. Eine Kürzung der Gehälter um pauschal zehn Prozent würde bereits 800 Millionen der angestrebten Einsparungen in Höhe von vier Milliarden Euro bringen. Nach Angaben des Gesamtbetriebsrats plane VW die Schließung von drei Werken und den Abbau zehntausender Stellen.
In Belgien macht das VW-Tochterunternehmen Audi bereits Nägel mit Köpfen und will die Produktion von Elektroautos in Brüssel Ende Februar einstellen - dort sind rund 3000 Menschen beschäftigt. Das sagte ein Vertreter der belgischen Gewerkschaft CNE am Dienstag (29.10.2024) der Nachrichtenagentur AFP.
Wie ernst die Lage ist, bestätigte die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) am gleichen Tag. Hildegard Müller sagte, der Umbau zur Elektromobilität werde in den kommenden zehn Jahren in der deutschen Autobranche weitere 140.000 Arbeitsplätze kosten. Seit 2019 seien schon etwa 46.000 Arbeitsplätze gestrichen worden. "Die Transformation unserer Industrie ist eine Mammutaufgabe", sagte sie laut Reuters und fügte hinzu: "Entscheidend ist, dass die politischen Rahmenbedingungen diesen Wandel unterstützen und begleiten."
Politiker bei VW
Der Ruf nach der "Politik" wird immer laut, wenn Unternehmen günstigere Rahmenbedingungen einfordern. Im Falle Volkswagen jedoch hat dieser Ruf eine besondere Qualität, weil bei den Wolfsburgern auch Politiker "mit am Tisch sitzen".
1938 als staatliches Unternehmen gegründet, wurde Volkswagen auch nach der Niederlage Deutschlands im zweiten Weltkrieg und der Wiederaufnahme der Produktion kein völlig selbständiges Unternehmen: Das Bundesland Niedersachsen besetzt Posten im Aufsichtsrat des weltweit tätigen Unternehmens.
Und so ruft hier auch ein Aufsichtsratsmitglied nach politischer Hilfe. Der Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil (SPD), forderte "alternative Lösungsansätze", um "einvernehmliche Lösungen zu entwickeln". Auch die Politik müsse ihren Beitrag leisten, erklärte Weil und forderte Kaufanreize für Elektroautos sowie eine Lockerung der EU-Flottengrenzwerte. Diese machen den Autoherstellern Vorgaben, wie viel CO2 die von ihnen produzierten Autos im Schnitt höchstens ausstoßen dürfen.
Zu lange ausgeruht
Dass auf Bundesebene bislang nichts geschehen ist, um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen grundsätzlich zu ändern, beobachtet auch die Direktorin des Berliner Büros der US-Denkfabrik German Marshall Fund, Sudha David-Wilp. Sie führte im Gespräch mit der DW die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Deutschlands darauf zurück, dass verschiedene Regierungen sich gescheut hätten, schmerzhafte, aber notwendige Reformen anzugehen.
"Die Jahre unter Frau Merkel", präzisierte David-Wilp, "waren recht bequem für Deutschland und das Land war reich genug, durch die COVID-19-Pandemie zu kommen. Doch angesichts des Erfolges der Populisten möchten die etablierten Parteien, dass sich die Deutschen wirtschaftlich sicher fühlen, damit sie nicht auf Parteien hereinfallen, die Angst schüren."
Für Volkswagen kommt erschwerend hinzu, dass die Berliner Politik bei der Förderung der E-Mobilität keinen nachvollziehbaren Kurs steuert. Während SPD-Mann Weil Kaufanreize für E-Autos fordert, hat die Berliner "Ampelkoalition" diese weitgehend abgeschafft. Eine gemeinsame Politik verfolgen die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP nicht. So macht Frank Schwope neben "Fehlentscheidungen des VW-Managements" auch das "'Hüh-und-Hott' der Politik" für die Volkswagen-Misere verantwortlich.
Krise der ganzen Volkswirtschaft
Dabei ist Volkswagen nur Teil einer viel umfassenderen Krankheit. Der ehemalige Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn sieht das jedenfalls so. In einem DW-Interview sagt er im September: "Volkswagen ist nur ein frühes Opfer." Ein Opfer der E-Mobilität, des EU-Verbrennerverbotes und der hohen Energiekosten in Deutschland. Dem müsse gegengesteuert werden, denn: "De-Industrialisierung ist kein Zukunftsthema, sondern ein Thema von Hier und Jetzt."
"Die Aussichten bei VW sind sicher symptomatisch für eine breitere Krise der deutschen Industrie und weniger ein isolierter Fall", sagt auch Franziska Palmas, Ökonomin bei Capital Economics in London, der DW. Die Industrieproduktion habe im Juli beinahe zehn Prozent unter dem Niveau von Anfang 2023 gelegen. Mittlerweile befinde sie sich in einem sechsjährigen Abwärtstrend.
"Volkswagen steht für den Erfolg der deutschen Wirtschaft in den vergangenen 90 Jahren", sagte Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Bank, zur DW. Nun aber stehe VW auch für die Krise: "Die Probleme von VW sollten der endgültige Weckruf für Deutschlands Politiker sein, um durch Investitionen und Reformen das Land wieder attraktiver zu machen."