In Gaza verlieren die Menschen jede Hoffnung
31. Mai 2015An diesem heißen Sommertag hängen israelische Drohnen wieder tief über Gaza-Stadt, ihr surrendes Geräusch ist überall zu hören. Sie überwachen den Gazastreifen aus der Vogelperspektive.
Auch während des Krieges im Sommer 2014 war ihr Surren allgegenwärtig - so auch hier in Shejaia, einem Wohnviertel im Osten von Gaza-Stadt, einem der am schlimmsten betroffenen Gebiete. "Man weiß nie, wann es wieder losgeht", sagt ein Passant mit besorgtem Blick in den Himmel. "Hier kann ja jederzeit wieder Krieg ausbrechen."
Zerbombte Gebäude
Denn ein Jahr nach Kriegsende erinnert hier noch alles an den Konflikt. Zwar sind inzwischen die Trümmer von den Straßen geräumt, doch rechts und links sieht man immer noch zerbombte Häuser und Trümmerfelder. Von Wiederaufbau ist nur wenig zu sehen.
Oft fahren Konvois mit gepanzerten Autos durch die Straßen. Eine Tour durch das Viertel steht fast auf jedem Programm der wenigen ausländischen Gäste. Zumeist sind es Politiker, die das von Israel und Ägypten abgeriegelte Gebiet besuchen, um sich "ein Bild der Lage" zu machen.
Auch Issam Alewa hat schon viele dieser Konvois gesehen. Es sei wichtig, sagt er, dass Ausländer nach Gaza kämen, um die Folgen des Krieges zu sehen. "Wir heißen sie natürlich willkommen," sagt er, "sie sollten alle herkommen." Dass sich deshalb irgendetwas an der Situation ändert, erwartet er aber nicht.
Leben in Ruinen
Alewas Haus ist eigentlich nicht mehr bewohnbar. Die meisten Seitenwände der Wohnung im ersten Stock fehlen. Das Treppenhaus ist mit Einschusslöchern durchsiebt. Trotzdem lebt der Vater von 13 Kindern noch immer dort mit seiner Familie. "Jeder sagt mir, dass das Haus nicht mehr sicher ist und dass ich es komplett abreißen soll", sagt er. "Aber wo sollen wir denn hin?"
Für einen Umzug fehlt der Familie das Geld. Direkt nach dem Krieg gab es einmalige finanzielle Hilfen, von der Hamas und anderen Hilfsorganisationen. Jetzt aber seien sie von seinem Einkommen als Sachbearbeiter abhängig, das zudem nur alle drei Monate und dann auch nur zur Hälfte ausgezahlt werde. "Ich muss ständig darauf achten, dass die Kinder nicht in Stromkabel greifen und einen Stromschlag bekommen", sagt Alewa und zeigt auf Kabelenden, die lose aus der Wand hängen. Dabei steigen dem 52-Jährigen Tränen in die Augen. Der Krieg, sagt er, war schon schlimm genug, aber jetzt sei die Situation einfach nur aussichtslos.
Schleppender Wiederaufbau
Schicksale wie dieses kennt Robert Turner nur allzu gut. Seit drei Jahren ist der Chef des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) rund um die Uhr im Einsatz. "Die Bevölkerung in Gaza ist aus vielerlei Gründen zutiefst frustriert und wütend", sagt er. "Der Wiederaufbau ist viel zu langsam, es wurde seit Kriegsende kein einziges komplett zerstörtes Haus wieder aufgebaut."
Turner hat zwei Gaza-Kriege - 2012 und 2014 - selbst miterlebt, im Juli wird er seinen Posten beenden. "Es gibt keine Fortschritte im innerpalästinensischen Dialog und die Blockade besteht weiter, seit nun fast neun Jahren." Die Grenzen des dicht besiedelten Gebiet mit seinen rund 1,7 Millionen Menschen werden auch weiterhin strikt von Israel und Ägypten kontrolliert. Auch deshalb ist der Wiederaufbau extrem langsam und kompliziert.
Doch Turner hat auch Positives zu berichten: Nur drei Wochen nach Kriegsende konnten einige UNRWA-Schulen wieder öffnen, obwohl viele beschädigt worden waren und während des Krieges als Zufluchtsort gedient hatten. Bis heute sind aber noch in sieben Schulen Flüchtlingsfamilien untergebracht.
Strikte Kontrollen
Zudem haben rund 60.000 Familien Hilfe erhalten, um ihre Häuser zu reparieren. Das Baumaterial dafür wird über den "Gaza Reconstruction Mechanism" (GRM) importiert, den die Vereinten Nationen mit Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde im Oktober ausgehandelt hatten. Dennoch, finanzieller Druck und die strikten Einfuhrkontrollen von Baumaterial aus Israel machen die Einfuhr zu einem sehr komplizierten Prozess. Denn Israel will verhindern, dass militante Gruppen das Material für den Bau von Tunneln nutzen.
Der Wiederaufbau wird auch durch den Streit zwischen Hamas und Fatah über die politischen Zuständigkeiten erschwert. Zwar hat die Hamas-Regierung die Regierungsverantwortung an die sogenannte Interimsregierung im Juni letzten Jahres abgegeben, aber gleichzeitig die Kontrolle über die interne Sicherheit und Verwaltung behalten. Solange die Palästinensische Autonomiebehörde nicht die Regierungsschäfte führt, kommt die zugesagte internationale Hilfe von 5,4 Milliarden US-Dollar nur zögerlich an, sagen Experten.
Keine Arbeit, keine Hoffnung
Neben dem langsamen Wiederaufbau macht der Weltbank und den Vereinten Nationen vor allem die hohe Arbeitslosigkeit sorgen. Sie warnen, dass der Gazastreifen am Rand des Abgrunds stehe. "Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 40 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei über 60 Prozent", sagt UNRWA-Leiter Robert Turner. "Bis vor einem Jahr hatten die Menschen vielleicht noch so etwas wie Hoffnung. Die aber haben sie jetzt mehr oder weniger verloren."
Auch der Chemie-Professor Mazen Hamada fragt sich oft, wie es weitergehen soll. "Wir haben zwei Regierungen in Gaza, und die sind sich nicht einig. Deshalb geht nichts voran, und wir sind es, die darunter leiden darunter. Ich kann nur hoffen, dass die internationale Gemeinschaft nicht darauf wartet, bis sie sich geeinigt haben. Denn das kann dauern."
Angst vor einem neuen Krieg
Hamada hat ebenfalls sein Haus während des Krieges verloren. Nach einem Telefonanruf des israelischen Militärs hatte die Familie das Haus im Osten von Gaza-Stadt verlassen - Minuten später war es nur noch ein Trümmerfeld. "Ich weiß bis heute nicht, warum sie unser Haus angegriffen haben", sagt Hamada. "Alles, was wir in 20 Jahren angeschafft haben, ist weg, alle unsere Sachen, all die Kindheitserinnerungen unserer vier Kinder, einfach alles."
Die sechsköpfige Familie wohnt jetzt in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung im Zentrum von Gaza-Stadt. Dafür gab es drei Monate lang einen Mietzuschuss der UNRWA, bis die Hilfe wegen Geldmangels gestoppt wurde.
Mit der neuen Situation hat der Professor leben gelernt. Doch wie viele andere treibt Hamada die Sorge vor einem neuen Konflikt um: "Jeden Morgen stehe ich auf und denke: Heute könnte ein neuer Krieg ausbrechen, jede Minute, ohne Vorwarnung."