Immer mehr orthodoxe Christen in Deutschland: "Wir sind da"
22. Juli 2024"Ich definiere mich als Hamburger. Aber religiös definiere ich mich über die serbisch-orthodoxe Kirche." Seit 34 Jahren lebt Radoslav Tisma in Hamburg. Damals kam er aus Jugoslawien nach Deutschland. "Seine" Kirche, die serbisch-orthodoxe Kirche in Deutschland, weihte kürzlich in Hamburg die Kirche des Heiligen Erzengels Michael ein. Dazu kam sogar der serbische Patriarch Porfirije Peric nach Deutschland.
Die Kirche in Hamburg ist ein Beispiel für die wachsende Präsenz des orthodoxen Glaubens in Deutschland. 2001 kaufte die Gemeinde das Gebäude. Tisma war während des Umbaus, der kurz danach begann, lange Vorstandsvorsitzender der Gemeinde. "Seitdem kommen immer mehr Menschen zu uns, die hier ihre spirituelle Heimat gefunden haben", sagt der 59-Jährige der DW.
Tisma betont, neben Familien, die in den vergangenen Jahren aus Serbien nach Hamburg gekommen seien, gehörten viele längst in der Stadt integrierte Gläubige dazu: Ingenieure, Fachärzte, Geschäftsleute. In den vergangenen Jahren habe die Gemeinde auch jüngere Mitglieder hinzugewonnen, die aus anderen Kirchen übergetreten seien. Tisma selbst hat längst den deutschen Pass, er ist Flugzeugbauingenieur.
Ganz anders als bei den großen Kirchen
Das Erstarken der serbisch-orthodoxen Gemeinde in Hamburg ist kein Einzelfall. Im Schatten der Krise, in denen sich die katholische und evangelische Kirche in Deutschland befinden, wachsen die orthodoxen Kirchen deutlich.
Die katholische Kirche verlor im Jahr 2023 durch Kirchenaustritte und Todesfälle mehr als 591.000 Gläubige. Sie verzeichnete Ende des Jahres noch gut 20,3 Millionen Mitglieder. Bei der evangelischen Kirche war es binnen eines Jahres ein Minus von rund 560.000 Mitgliedern auf nun 18,5 Millionen. Das heißt: Rund 47,5 Prozent der Deutschen zählen noch zu einer der beiden "Großkirchen". Nach der deutschen Wiedervereinigung 1991 waren es noch über 70 Prozent.
Medien thematisieren die sinkende Kirchenbindung, Kirchenvertreter winden sich in Erklärungsansätzen. Doch nur selten kommt zur Sprache, dass die Zahl der orthodoxen Christen in Deutschland seit Jahren deutlich steigt. Anders als bei Katholiken und Protestanten, die ihre Mitgliederzahl wegen der rechtlichen Regelungen genau erfassen, gibt es bei den orthodoxen Kirchen nur Schätzungen.
In kleiner Zahl leben orthodoxe Christen seit Jahrhunderten in Deutschland. Mit der Zuwanderung von - damals so genannten - "Gastarbeitern" aus Griechenland, Jugoslawien und weiteren Ländern stieg ihre Zahl seit 1960 deutlich.
Vor gut zehn Jahren lag die Gesamtzahl der orthodoxen Christen nach Schätzung der 2010 gegründeten Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland (OBKD) bei höchstens 1,5 Millionen. Ende 2021 ging man schon von drei Millionen aus.
Nun spricht die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in einer Statistik von gut 3,8 Millionen orthodoxen Christen in Deutschland. Der griechisch-orthodoxe Vikarbischof Emmanuel von Christoupolis (47), der die Gemeinde in der Hauptstadt leitet, spricht sogar von mindestens "vier Millionen orthodoxen Gläubigen in Deutschland - Frauen, Männer, Kinder". Sie gehörten - das ist ihm wichtig - nicht einer der orthodoxen Kirchen an, sondern "der orthodoxen Kirche".
Bischof Emmanuel verkörpert viel vom Aufstieg der orthodoxen Kirche. Der Geistliche selbst ist gebürtiger Duisburger. "Ich bin ein Vertreter der dritten Generation meiner Familie in Deutschland", sagt er. Mittlerweile taufe er häufig Kinder aus Familien der dritten oder vierten Generation. Bevor wir sprechen, traf der Bischof in seiner Kirche in Berlin-Steglitz ein junges Paar mit seiner wenige Wochen alten Tochter. Die Mutter hat griechische Wurzeln. Bevor über einen Tauftermin gesprochen wird, segnet der Geistliche das Kind und heißt es in der Kirche willkommen.
"Potenzial für Deutschland"
"Das orthodoxe Bekenntnis ist ein unheimliches Potenzial in diesem Land. Diese Zahl an Gläubigen kann man nicht einfach so beiseite schieben. Und man kann auch nicht darüber sprechen als über eine Minderheit. Wir sind keine Minderheitskirche mehr, und es ist eigentlich auch keine Migrantenkirche mehr. Wir sind da", sagt Bischof Emmanuel. In Deutschland gebe es mehr als 600 orthodoxe Gemeinden verschiedener Sprachen.
Der griechische Geistliche ist seit Gründung der OBKD deren Vertreter gegenüber der Bundespolitik. Er wird eingeladen, wenn die großen Kirchen mit viel politischer Prominenz ihre Jahresempfänge geben. 2016 war er mit seiner ganzen Bischofskonferenz beim damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck zu Gast. Emmanuel von Christoupolis sagt, dass sich die Präsenz orthodoxer Christen in den Parlamenten noch nicht entsprechend niederschlägt. Dabei seien viele der Orthodoxen deutsche Staatsbürger.
Woher kommt der Zuwachs?
Vor einigen Jahrzehnten stellten Griechen und Russen die meisten orthodoxen Christen in Deutschland. Heute sind laut OBKD rumänisch-orthodoxe Christen mit 900.000 Mitgliedern die größte Einzelgruppe. Jeweils über 400.000, zum Teil fast 500.000 Mitglieder haben wohl Russen und Griechen, Bulgaren und Serben. Das gemeinsame Europa macht es möglich, auch der Bedarf des deutschen Arbeitsmarktes.
Die Zahlen könnten noch höher liegen: In Nordrhein-Westfalen hat die serbisch-orthodoxe Kirche die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts beantragt. Das würde ihr Vorteile bringen beim Spendensammeln oder im Umgang mit Behörden. Im Antrag sprechen die Serben von bundesweit mindestens 750.000 Mitgliedern.
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar 2022 sind auch von dort zehntausende Christen orthodoxen Bekenntnisses nach Deutschland gekommen. Deren Zahl will einer der leitenden Pfarrer der ukrainisch-orthodoxen Kirche in Deutschland aber nicht schätzen.
Spannungen mit russisch-orthodoxen Christen
Der politische Kurs Russlands, der von der russischen Orthodoxie und ihrem Patriarchen in Moskau engagiert mitgetragen wird, schlägt sich auch in Deutschland nieder. Bereits 2018 zogen sich die drei russisch-orthodoxen Bischöfe aus der OBDK zurück. Damit reagierten sie auf Bemühungen des Patriarchats in Konstantinopel, in der Ukraine eine von Moskau unabhängige Landeskirche zu etablieren.
Gespräche gibt es gelegentlich trotzdem - so kam zur Vollversammlung des Weltkirchenrats Anfang September 2022 in Karlsruhe auch eine Delegation russisch-orthodoxer Geistlicher.
Eine (zufällige) Beobachtung: Wer in Berlin eine Reihe orthodoxer Gottesdienste besucht, in Mitte und Wedding, in Schöneberg und Wilmersdorf, erlebt lediglich in der russisch-orthodoxen Kathedrale eine Feier, in der in gut zwei Stunden kein einziges Wort in deutscher Sprache gesprochen wird. Der Geistliche betont später auf Anfrage, nein, er spreche kein Deutsch.
Bei anderen ist das Bemühen offensichtlich. Da wird in Deutsch gepredigt und in der traditionellen Sprache gebetet oder in zwei Sprachen abwechselnd gesungen.
Christen aus Syrien und dem Irak
Eine der Kirchen, die seit der Ankunft vieler Flüchtlinge stark gewachsen sind, ist die syrisch-orthodoxe Kirche von Antiochien. In Deutschland zählt sie nach eigener Schätzung 100.000 Mitglieder.
In Bietigheim-Bissingen, einer Stadt 20 Kilometer nördlich von Stuttgart, weihte die Gemeinde, die mit Gastarbeitern vor mehr als 50 Jahren begann, 2019 eine eigene Kirche ein.
Eines der Gemeindemitglieder ist Linda Güven. "Unsere Kirche wächst hier im Land. Wir haben Zuwachs bekommen aus den Kriegsgebieten in Syrien und dem Irak", sagt die 35-jährige Lehrerin, deren Familie schon lange in Württemberg lebt. Gelegentlich wechselten auch Christen aus anderen Kirchen zu ihnen.
"Wir fühlen uns angenommen. Die katholischen und evangelischen Gemeinden unterstützen uns in vielen Fragen", erläutert sie. Güven sieht ihre Kirche nicht mehr als Migrantenkirche. Sie verkörpert selbst die Präsenz in Deutschland. Seit Mitte 2023 ist Güven die erste staatlich-approbierte Religionslehrerin für syrisch-orthodoxe Kinder in Deutschland.