Krise der Katholischen Kirche: Immer mehr Austritte
28. Juni 2023Es ist ein Rekord in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Im Jahr 2022 verließen nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz 522.821 Katholikinnen und Katholiken ihre Kirche. Das ist ein Anstieg um über 45 Prozent gegenüber dem Jahr 2021. Und eine Statistik, die zu den vielen Meldungen über zähe Reformprozesse und streitende Bischöfe passt.
Michael Rind ist einer derer, die kürzlich aus der katholischen Kirche ausgetreten sind. Für den 56-jährigen Katholiken war es, wie er der Deutschen Welle sagt, ein langer, schmerzhafter Prozess. Der Kölner Finanzbuchhalter spricht von "vielen Schockmomenten" und "schmerzhaften Erkenntnissen" zum Thema sexuelle Gewalt in seinem Erzbistum Köln. Gerade wegen seiner Nähe zum Erzbistum hätten ihn viele Nachrichten zur Rolle des Erzbischofs und anderer Mitarbeiter der Bistumsleitung getroffen.
"Menschenverachtend"
Aber Rind kommt dann auch auf die Rolle der gesamten Bischofskonferenz, nicht nur bei der Aufarbeitung von Missbrauch, sondern auch bei grundsätzlichen Fragen der Seelsorge. "Da sind Menschen, die die Kirche eigentlich in der Nachfolge Jesu an die Hand nehmen und bewusst integrieren müsste, wiederverheiratete Geschiedene oder Homosexuelle", sagt Rind. Aber er sehe da zu oft eine "menschenverachtende Handhabung".
Damit benennt Rind die beiden brennendsten Probleme, die die katholische Kirche in Deutschland beschäftigen. Da ist der seit langem schwelende Streit um das Vorgehen des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki, dessen Kurs in der Aufarbeitung von Missbrauch und bei pastoralen Konsequenzen viele Menschen empört. Noch am Tag vor der Bekanntgabe der Kirchenaustrittszahlen gab es angesichts eines Meineid-Verdachts – damit hätte sich Woelki eines Verbrechens schuldig gemacht – eine Razzia in verschiedenen Räumlichkeiten des Erzbistums.
Doch darüber hinaus gibt es wohl eine wachsende Kluft zwischen Gläubigen, die auf Reformen warten und beispielsweise eine Aufwertung von Frauen in der Kirche fordern, und Bischöfen, die bremsen. Auch Bischöfen scheinen nun die Worte zu fehlen. Vor zwölf Monaten zeigte sich der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, "zutiefst erschüttert über die extrem hohe Zahl an Kirchenaustritten".
Am 5. Juli nun lieferte die Bischofskonferenz zunächst einfach nur die nackten Zahlen, ohne Bewertung. 522.821 Menschen, die die Kirche verließen. Zum Vergleich: Auf evangelischer Seite waren es im vorigen Jahr rund 380.000. Dabei vermeldeten die evangelischen Kirchen in früheren Zeiten meist höhere Zahlen als die katholischen Bistümer.
Auch "Kern-Katholiken" gehen
Das ist vorbei. Im Gespräch mit Seelsorgern hört man immer wieder, es träten nun auch "Kern-Katholiken" aus ihrer Kirche - Leute wie Michael Rind eben. Seit Kindesbeinen pilgert er Jahr für Jahr mit über tausend Gleichgesinnten aus der Domstadt gut 100 Kilometer in den niederrheinischen Wallfahrtsort Kevelaer und zurück. Rind ist Präfekt der traditionsreichen "Kölner Kevelaer-Bruderschaft". Seine Frau ist katholisch, sie ist in der Kirche geblieben. Er, so wirkt es, hat es nicht mehr ausgehalten angesichts der Zustände. "Mafiös" sagt er. "Dabei hat die Kirche doch ein unschlagbares Angebot: die frohe Botschaft. In Zeiten von Klimakatastrophe und gesellschaftlichen Krisen müssten die Menschen ihr doch eigentlich die Türen einrennen."
Aber davon ist die katholische Kirche derzeit weit entfernt. Bundesweit verließen 2,37 Prozent aller Kirchenmitglieder binnen eines Jahres die Institution. Die Gesamtzahl - 522.821 - stieg im Jahresvergleich um 45,5 Prozent. Seitdem Opfer von sexuellem Missbrauch durch Kleriker im Jahr 2010 die Verbrechen öffentlich machten und immer neue Berichte über Straftaten und Vertuschung und systemische Fehler folgten, steigen die Zahlen.
In den ausgesprochen konservativen Diözesen Regensburg (+70%), Passau (+63,7%) und Augsburg (+55,5%), lag dieser Wert noch deutlich höher. Aber auch das ist nicht zu verallgemeinern. Das Erzbistum Köln von Kardinal Woelki, der sich kirchenpolitisch auch gegen Reformen und mehr Beteiligung von Laien wendet, verzeichnete einen Anstieg um 25,9% auf 51.345 Menschen, die sich verabschiedet haben. Alle Bistümer werden sich in absehbarer Zeit nicht nur mit seelsorgerlichen Aspekten der hohen Zahl an Kirchenaustritten auseinandersetzen müssen. Denn auch der finanzielle Spielraum, den die Kirchenherren haben, wird bald spürbar sinken.
Hat Michael Rind Reaktionen auf seinen Kirchenaustritt bekommen? Der 56-Jährige machte seinen Austritt im Februar 2023 öffentlich, der Westdeutsche Rundfunk (WDR) berichtete über sein Ringen, seinen Entschluss, die Beweggründe. "Danach brachen bei mir regelrecht alle Leitungen zusammen", sagt er angesichts vielfacher Rückmeldungen. Er habe positive Reaktionen erhalten, "auch von Menschen, die mit dieser Kirche immer noch verbunden sind. Vielleicht ist es genauso schwer zu bleiben, wie zu gehen", sagt er.
Einladung zur Kommunion
Auch viele katholische Seelsorger hätten ihn bestärkt. Er habe auch die Einladung erhalten, nach wie vor bei der Kommunion zugelassen zu sein. „Das ist natürlich ein vertraulicher Moment." Denn offiziell, kirchenamtlich ist ihm dieser Schritt nicht mehr möglich.
Der Austritt von Michael Rind fließt übrigens erst im nächsten Jahr in die Statistik ein. Denn er verließ die Institution im Februar 2023. Eigentlich bestätigt seine Entscheidung das, was ein katholisches Bistum, das Bistum Münster, nach Bekanntgabe der Austrittszahlen twitterte: "Menschen treten aus unterschiedlichen Gründen aus der Kirche aus. Gleichzeitig ist Kirche so viel mehr!"
Ende Juli pilgert Rinds Truppe wieder nach Kevelaer.