Die "neue Normalität" im Konzertsaal
28. Juni 2020Köln, ein Freitagnachmittag Ende Juni. Die Einkaufsstraßen sind voll, in den Cafés ist kaum ein freier Tisch zu finden. Auch vor der Kölner Philharmonie, einer der größten in Deutschland, ist wieder Leben: Das WDR-Sinfonieorchester lädt zum ersten Publikumskonzert ein – beziehungsweise gleich zu zwei, denn der renommierte Klangkörper unter der Leitung von Christian Măcelaru gestaltet an diesem Abend zwei etwa einstündige Konzerte mit unterschiedlichen Programmen, um 18 und um 21 Uhr. Zum einen, um unnötige Begegnungen in der Pause zu vermeiden, zum anderen, damit möglichst viele Musikliebhaber nach einer über dreimonatigen Musik-Abstinenz wieder ein Konzert live erleben können.
Zur Enttäuschung vieler Musikliebhaber sind die Karten noch nicht im freien Verkauf zu erwerben. Die genau 440 Sitzplätze, die man nach Corona-Regeln im Saal der Kölner Philharmonie mit ihren insgesamt über 2000 Sitzplätzen besetzen darf, sind in einem Losverfahren unter dem Abonnement-Publikum verteilt worden. Die Nachfrage muss sehr hoch gewesen sein, denn viele gingen leer aus. Nur ungefähr jeder Dritte hatte Glück.
Spätestens eine Dreiviertelstunde vor Konzertbeginn reiht man sich dann als die oder der Auserwählte in eine höchst disziplinierte und rekordverdächtig lange Schlange ein, die sich über mindestens 150 Meter erstreckt. Die Stimmung in der Schlange ist feierlich, geredet wird kaum. Bei einigen Damen passen die Masken, das neue Accessoire der Saison, farblich zum Outfit und weisen eine gewisse Eleganz auf. Die Herren bevorzugen auch beim Mundschutz schlichtes Schwarz.
Karten nur für Auserwählte
Wie bei der Bestellung schriftlich verordnet, halten alle ihre vorab ausgedruckten Tickets sowie ein in Blockschrift ausgefülltes "Formular zur Besucherregistrierung" mit sämtlichen Personal- und Kontaktdaten in der Hand, ein Fehlen von Corona-Symptomen wird per Unterschrift versichert. Ein paar Glückssucher halten den Auserwählten ihre Kartenwunsch-Plakate entgegen – umsonst.
Beim Betreten des Foyers sprühen die "Blauen Mädchen", die Mitarbeiterinnen der Philharmonie, großzügig Desinfektionsmittel auf die entgegengestreckten Hände. Ihre Kollegen übernehmen und weisen dem Publikum die Plätze an. Diese sind nicht nummeriert, die Halle wird nach und nach, ab der ersten Reihe, von unten nach oben befüllt. Wer zu einem Haushalt gehört, darf zusammensitzen. Zwischen den Grüppchen gähnen Lücken von drei bis vier leeren Plätzen, jede zweite Reihe ist ebenso frei.
"Boarding completed"
"Boarding completed" ruft ein Witzbold in Blau seinen Kollegen kurz vor 18 Uhr zu. Die Musiker kommen auf die Bühne, 25 von insgesamt über 100 Mitgliedern des WDR-Orchesters. Streicher, Pauke, Bläser, alle halten Distanz. Als letzter betritt der Dirigent Christian Măcelaru die Bühne – mit Maske, die er dann aber vor dem Dirigieren abnimmt.
Und dann erklingt der erste Ton…
Dieses in den vergangenen Corona-Monaten zwar nicht vergessene, aber dennoch überwältigende Gefühl, Musik live zu erleben! Ein Musik-Erlebnis in der Realität ist durch keinen noch so gut gemachten Stream und keine noch so toll produzierte Aufnahme zu ersetzen. Trotz kleiner Besetzung ist der Klang satt und opulent.
Das Programm ist etwas Besonderes: Aus dem riesigen Fundus europäischer klassischer Musik wurden Werke für kleine Orchesterbesetzung ausgewählt, die sonst nur selten erklingen – wie etwa "Trittico Botticelliano" des italienischen Komponisten Ottorino Respighi. "Normalerweise programmiert man diese Werke nicht, weil man eben ein großes Orchester hat", erklärt Dirigent Măcelaru. Dabei handelt es sich um wahre Schätze. "Damit kann man auch jahrelang Programme gestalten", so der Musiker. Zu hoffen ist das aber natürlich nicht – zumindest dann nicht, wenn die Pandemie der Grund dafür sein sollte.
Musik als Hoffnung
Nach knapp einer Stunde Musikgenuss bedankt sich das Publikum mit einem stürmischen Applaus und verlässt diszipliniert den Saal. Um 21 Uhr gibt es das nächste einstündige Konzert – diesmal mit dem Pianisten Igor Levit, der schon beim Betreten der Bühne Applaus kassiert.
Igor Levit ist ein Held des Lockdowns – seine Hauskonzerte auf Twitter haben tausenden Menschen über die schwierigen Wochen geholfen. Diesmal spielt Levit Mozarts A-Dur-Konzert. Der Klang ist weich und fließend, die Musik durchströmt den Saal. Danach spielt das Orchester noch Schuberts 5. Sinfonie. Der Abend ist viel zu schnell vorbei. Mundschutz auf und ab zum Ausgang, Abstand halten.
Nur selten spürte man so stark, was Musik eigentlich ist: Trost und Hoffnung.