Hongkongs "Straße" gegen pekingtreue Regierung
12. Juni 2019Hongkong ist erneut im Ausnahmezustand. Zum dritten Mal nach 2003 und 2014 erregen von Peking ausgehende politische Entscheidungen beziehungsweise Initiativen die Gemüter vieler Einwohner der Sonderverwaltungsregion Hongkong. Sie fürchten um ihre weitgehende Autonomie, die im Grundgesetz ("Basic Law") zum Ende der britischen Kolonialherrschaft 1997 festgeschrieben wurde. Ging es zuerst um ein geplantes und letztlich gescheitertes Sicherheitsgesetz (2003) und um die Vertagung einer demokratischen Wahl des Hongkonger Regierungschefs auf den Sankt-Nimmerleinstag (2014), so treibt diesmal die umstrittene Änderung des Auslieferungsgesetzes die Bürger auf die Straßen.
Nach dem Protestmarsch mit schätzungsweise einer Million Teilnehmern am vergangenen Sonntag versammelten sich am Mittwoch Zehntausende vor dem Parlamentsgebäude, wo der Gesetzentwurf behandelt werden sollte. Die Demonstranten verlangen, dass er zurückgezogen wird. Viele Schulen strichen Klausuren für ihre Schüler, Firmen gaben ihren Mitarbeitern frei. Am Mittwochnachmittag ging die Polizei mit Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschossen gegen Demonstranten vor, zumeist Studenten, die sich weigerten, das Gelände vor dem Parlament zu räumen.
Eskalation der Lage
Angesichts des Drucks der Straße wurde die eigentlich für Mittwoch angesetzte weitere Lesung des Gesetzentwurfs vertagt. Von Regierungschefin Carrie Lam verlautete, sie verurteile die (mutmaßlich der von Demonstranten verübten) Gewalt aufs Schärfste und dränge auf die Wiederherstellung der Ordnung so bald wie möglich.
Die Abstimmung über den Gesetzentwurf, der im Gegensatz zur bisherigen Regelung eine Auslieferung von gesuchten Verdächtigen auch an das Festland und an Taiwan ermöglichen würde, wurde von dem chinafreundlichen Vorsitzenden des Legislativrats, Andrew Leung Kwan-yuen, auf den 20. Juni festgesetzt. Die Zustimmung gilt als sicher, denn der prochinesische Teil des nur teilweise frei gewählten Hongkonger Parlaments (Legislativrat oder "Legco") besitzt 43 von 70 Sitzen.
"Sein oder Nichtsein"
Für Fernando Cheung Chiu-hung, Abgeordneter der Hongkonger Labour-Partei, ist das beschleunigte parlamentarische Verfahren zur Verabschiedung des Gesetzes eine "Unverschämtheit". Parlamentsvorsitzender Leung hatte 61 Stunden Redezeiten für die restlichen zwei Lesungen - die erste fand Anfang April statt - und fünf Stunden für Fragen im Parlament vorgesehen.
"Das ist gegen die Geschäftsordnung des Parlaments", sagt Cheung im Interview mit der DW. "Die Proteste richtet sich in erster Linie gegen die Regierung von Chief Executive Carrie Lam, die den Willen der Bürger ignoriert, das Gesetzgebungsverfahren einzustellen." Hongkong befinde sich in einem kritischen Moment von Sein oder Nichtsein, der über seine weitere Existenz als Stadt mit eigenem System und eigener Lebensart entscheide.
Der zeitliche Druck sei nicht begründet, sagt auch der Legco-Abgeordnete Raymond Chan Chi-chuen, der dem demokratischen Lager angehört. "Der Gesetzesentwurf hat keine Eile. In den vergangenen Jahrzehnten haben nicht so viele Auslieferungen stattgefunden, dass jetzt eine Zwei-Wochen-Frist gerechtfertigt wäre", sagt Chan der DW. "Wir können jetzt nur noch auf Zeit spielen", räumt er dennoch ein. Druck auf die Regierung, das Verfahren einzustellen, könne jetzt nur noch von der Straße kommen.
Pekings Unterstützung
Peking stellt sich hinter die Verwaltungschefin Carrie Lam. Regierungssprecher Geng Shuang bekräftigt, die Zentralregierung unterstütze entschlossen die Änderung des Auslieferungsgesetzes. Sämtliche Schritte entsprächen gesetzlichen Normen.
Von der geplanten Änderung könnten auch ausländische Menschenrechtsaktivisten betroffen sein, wenn sie auf dem Flughafen Hongkongs umsteigen, warnte der renommierte US-Jurist Jerome Cohen in seinem Blog. Das Gesetz würde es Hongkongs Behörden erlauben, von Chinas Justiz verdächtigte Personen auszuliefern.
Gyde Jensen (FDP), Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag, erklärte gegenüber der DW: "Sollte das geänderte Auslieferungsgesetz verabschiedet werden, muss sich die Bundesregierung mit möglichen Auswirkungen auf das bestehende Auslieferungsabkommen zwischen Deutschland und Hongkong befassen."
Erst vor kurzem wurde bekannt, das Deutschland zwei Hongkonger Demokratie-Aktivisten Asyl gewährt hat, da sie befürchten, keinen fairen Prozess wegen ihrer Beteiligung an anti-chinesischen Demonstrationen zu bekommen. Hongkong hat dagegen Protest eingelegt.
Der Fall hat nichts mit dem Auslieferungsgesetz zu tun, zeigt aber, dass die zunehmenden Spannungen zwischen Peking und zumindest großen Teilen der Hongkonger Gesellschaft auch internationales politisches Konfliktpotential haben. Der britische Außenminister Jeremy Hunt forderte, dass Hongkong sein zugesichertes hohes Maß an Autonomie aufrechterhalten müsse, auf welcher sein internationales Ansehen ruhe.
Mitarbeit: William Yang, Taipeh