Holocaust: Überleben im Grab
27. Januar 2022Eine hohe Backsteinmauer und ein düsteres, schwarzes Tor versperren den Blick auf den jüdischen Friedhof in der Warschauer Okopowa-Straße. Wer es durchschreitet, dem eröffnet sich ein riesiger, halbzerfallener Ort mit 200.000 Grabsteinen, von denen viele umgekippt sind. Wegen der hohen Bäume und des wuchernden Unterholzes herrscht hier auch am helllichten Tage eine seltsame, geheimnisvolle Düsternis. Der Friedhof ist ein Ort der Stille mitten in der lauten polnischen Hauptstadt, seine Weite erinnert auch daran, wie viele Juden vor dem Holocaust allein in Warschau lebten. Im gesamten Gebiet des heutigen Polen waren es gut drei Millionen.
Der flächenmäßig größte jüdische Friedhof Warschaus blieb vom Zweiten Weltkrieg zum großen Teil verschont; noch heute finden hier vereinzelt Beerdigungen statt. In einem der unzähligen Gräber fand 1942 der junge Abraham Carmi mit seiner Mutter und einigen weiteren Menschen Zuflucht. Er kannte das Gelände bereits, denn sein Onkel war Direktor des Friedhofs gewesen. Eines Tages sah Abraham, dass Ziegel in eines der Gräber getragen wurden. Dieses Grab war später sein Versteck. "Ob es zu diesem Zeitpunkt leer war, wissen wir nicht", sagt Natalia Romik, die heute, 80 Jahre später, an diesem Ort forscht.
Seit über drei Jahren ist die polnische Politikwissenschaftlerin und Architektin Romik Orten auf der Spur, die während des Holocaust zu Zufluchtsstätten für Juden wurden. Das Thema des Sich-Versteckens von Juden und der Unterstützung, die sie erhielten, wurde zwar schon in verschiedenen Kontexten erforscht - aber das Wissen über die Architektur der Verstecke selbst ist bis heute dürftig, betont Natalia Romik.
Es sind ganz unterschiedliche Orte, mit denen es die 39-jährige Forscherin zu tun hat. Und doch haben sie alle eines gemeinsam: Sie entstanden aus Angst um das Wertvollste - das eigene Leben und das der Nächsten. "Ein Gedanke lässt mich nicht los: wie Menschen, die oft nur einen Löffel oder ein Messer zu Verfügung hatten, es über Nacht geschafft haben, sich ein Versteck zu bauen, mit Hilfe von jüdischen, aber auch polnischen, ukrainischen oder belarussischen Freunden", sagt Natalia Romik der DW, bevor sie in Abraham Carmis Versteck hinabsteigt.
Überleben unter Grabsteinen
Carmi überlebte den Holocaust - doch vier Menschen, die das Versteck im Grab mit ihm teilten, wurden wahrscheinlich direkt daneben getötet, berichtet Natalia Romik. Heute lebt Carmi in Israel und ist 97 Jahre alt. Natalia Romik besuchte ihn noch vor der Corona-Pandemie zusammen mit der Anthropologin Aleksandra Janus, mit der sie am Versteck im Grab forscht. Im September 2021 erschien auf polnisch und englisch ein Buch beider Forscherinnen über Carmis Vesteck. In Israel fragte Romik den Überlebenden, wie es möglich gewesen sei, mit mehreren anderen Menschen zusammen auf wenigen Quadratmetern in einem Grab zu leben. Als Kind habe er sich an eine solche Situation schnell anpassen können, antwortete Carmi der Forscherin.
Das Versteck war teilweise durch zerbrochene "Mazewas", jüdische Grabsteine, verdeckt. Das sollte einerseits als Sichtschutz dienen, anderseits aber genügend Licht und Luft durch die Spalten zwischen den Steinen ins Versteck lassen. Weiter erzählte der Holocaust-Überlebende der polnischen Forscherin: "Sie hatten zwei Metallstreben daraufgelegt, darauf wiederum irgendwelche Rohre verteilt, und wir haben Grabsteine darauf platziert, darunter auch den von einer Frau Rosenberg". Aus irgendeinem Grund hat sich ihm gerade dieser Name eingeprägt. Die Metallstreben, die Carmi erwähnte, sind bis heute im Versteck zu sehen. Sie stammen wohl von Straßenbahnen.
Eine Treppe im Baum
Solche klärenden Gespräche kann Natalia Romik immer seltener führen. Die meisten, die während des Holocaust erfolgreich um ihr Leben kämpften, sind inzwischen verstorben. So sucht die Forscherin nach Verwandten - in der Hoffnung, dass sie Licht ins Dunkel der Verstecke bringen können. Aus diesem Grund suchte die Forscherin in den USA auch Verwandte von drei Brüdern, die sich im polnischen Karpatenvorland in der heute etwa 650-jährigen Eiche "Jozef" vor den Nazis versteckten.
Dazu besuchte Natalia Romik, ausgestattet mit einer Hebebühne und einer Endoskopkamera, die Gemeinde Wisniowa. Dabei entdeckten sie und ein Dendrologe, also ein Baumforscher, quer in eine Baumhöhle eingepasste Bretter. Anfangs schienen es nur vier zu sein, aber schnell zeigte sich, dass es deutlich mehr waren. Am Ende gab es keine Zweifel: 14 Stufen führen in den Baum hinein. Romik sprach mit Dorfbewohnern und erfuhr, dass das Versteck im Baum das Werk von drei Brüdern war. Einer sei später von Deutschen getötet worden, der zweite höchstwahrscheinlich von Polen, aber der dritte habe den Holocaust überlebt und sei in die USA ausgewandert.
Die Überlebenshelfer
Nach Schätzungen überlebten etwa 50.000 Juden, die sich im besetzten Polen versteckten, den Zweiten Weltkrieg. Vielen gelang das dank der Hilfe anderer Juden - aber auch von Nicht-Juden. Ein lebensgefährlicher Akt der Nächstenliebe, denn im von Deutschland besetzten Polen drohte jedem, der Juden versteckte, die Todesstrafe. Trotzdem wagten es viele. In der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sind 7000 Polen als Gerechte unter den Völkern aufgeführt.
Unter ihnen ist auch die Familie Kobylec aus Siemianowice Slaskie in Oberschlesien. Von dem Versteck in ihrem Haus, in dem 30 Juden überlebten, gibt es heute keine Spur mehr, denn die Familie hat das Gebäude vor Jahren umgebaut. Während des Zweiten Weltkriegs versteckten zuerst die Söhne der damaligen Besitzer Juden auf dem Dachboden und im Keller. "Später schlossen sich die Eltern an und bauten ein komplexes Versteck unter ihrer Küche. Sie entwarfen auch ein ganzes Warnsystem: Wenn Bekannte ins Haus kamen, leuchtete im Versteck ein Lämpchen in einer bestimmten Farbe. Betrat ein Unbekannter das Haus, warnte eine andere Farbe vor einer potentiellen Bedrohung", erzählt Natalia Romik.
Helden und Schurken
Die Forscherin verfügt über ein Modell des Hauses, wie es vor 80 Jahren ausgesehen haben dürfte. Es war mit einem eigenen Ventilationssystem für die versteckten Menschen ausgestattet. Später erinnerte sich Frau Kobylec in einem Buch von Wladyslaw Bartoszewski und Zofia Lewinowna, dass der "Bunker" zwei Jahre lang so funktionierte: "Ich habe für alle gekocht und die Wäsche gewaschen. Und bei all dem musste man sich immer vor neugierigen Blicken schützen."
Bei ihren Forschungen stößt Natalia Romik auf viele heldenhafte Geschichten - aber auch immer wieder auf weniger ruhmvolle Kapitel. "Fast jede dieser Geschichten hat auch Schattenseiten", sagt sie. Eine der Stationen, die sie zuletzt besuchte, ist die Kanalisation von Lemberg, dem heutigen Lviv. Über 80 Jahre nach dem Krieg fand die Forscherin Geschirr und andere Gegenstände, die dort hinterlassen wurden. Es sind oft solche Objekte, fragmentarische Erzählungen und Dokumente, anhand derer sie die Puzzleteile von Lebensläufen rekonstruiert, die oft jäh abbrechen: Geschichten, die Natalia Romik lange nicht los- und oft fassungslos lassen.
Ein Kollege hat ihr einmal geraten, Erinnerungen, die in den Verstecken geschrieben wurden, am besten nicht morgens zu lesen. "Danach kann man nur schwer weiterarbeiten," erklärte er der Forscherin. Sie versucht, dem Rat zu folgen, denn sie will ihre Arbeit fortsetzen. Sie treibe auch der starke Wille zu verhindern, dass die Orte und ihre Geschichten vollends in Vergessenheit geraten, erzählt Natalia Romik.
Gerade deshalb machen sich die Forscherin und ihr interdisziplinäres Team von Archäologen, Geodäten, Dendrologen und anderen Fachleuten Gedanken darüber, wie man die ehemaligen Verstecke für die nächsten Generationen erhalten kann. Als sie Abraham Carmi auf sein Versteck im Grab ansprach, meinte der, es solle auf dezente Art geschehen, um den Ort als solchen zu retten - ohne dessen Authentizität zu verwischen.
Und auch den Aufbau einer Datenbank plant Natalia Romik, damit die Verstecke, die lange verborgen waren und vom tausendfachen Kampf ums Überleben zeugen, auch in Zukunft erschlossen werden können.