"Hingst entzieht sich der Verantwortung"
3. Juni 2019Deutsche Welle: Herr Professor Brumlik. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von dieser Geschichte erfuhren?
Micha Brumlik: Ich fand das sehr traurig. Die Frau Hingst, die sich eine falsche Familiengeschichte zugelegt hat, hat mir wirklich leid getan. Ich habe mich freilich gefragt, ob so etwas vorkommen kann im Rahmen des Umstandes, dass ja die Frage des Holocaust, seiner Opfer und seiner Täter, ein wesentliches Thema in Deutschland ist. Und so kann ich mir vorstellen, dass die eine oder andere verwirrte Seele - Frau Hingst ist ja nicht der erste Fall - das in die falsche Kehle bekommt und für sich selbst falsch aktualisiert.
Was glauben Sie, steckt dahinter - dreister Zynismus, krankhafte Geltungssucht oder einfach nur Dummheit? Sie haben gerade schon Verständnis geäußert....
Vielleicht Dummheit oder mangelndes Einfühlungsvermögen und mangelnde historische Klarsicht - womöglich ist es auch so etwas wie ein unbewusster Wille, sich mit den Opfern nicht nur zu identifizieren, sondern zu ihnen zu gehören.
Sie haben ja einmal das Fritz Bauer-Institut in Frankfurt geleitet, ein Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Würden Sie sagen, die Hochstapelei, wenn wir das jetzt mal so bezeichnen, geht auf Kosten von Holocaust-Opfern?
Nicht direkt. Die wenigen Holocaust-Opfer, die ich noch kenne, zumeist ältere Leute, bei denen würde ich vermuten, dass ihnen das auch eher leid tut. Das ist ein trauriger Nebeneffekt des Umstandes, dass das insgesamt eine belastende Materie ist, die jedenfalls einen Teil des lesenden Publikums in Deutschland seit Jahrzehnten beschäftigt.
Wenn sich eine preisgekrönte Bloggerin wie Marie Sophie Hingst, eine studierte Historikerin, für alle Welt erkennbar auf die Seite der Opfer schlägt - verlässt sie dann das Lager der Täter, entzieht sie sich einer kollektiven Schuld?
Um Schuld kann es ohnehin nicht gehen bei ihrem Alter. Es geht um die Frage, ob diese Generation bereit ist, politisch-historische Verantwortung zu übernehmen. Und das würde ich dann bejahen. Unter diesen Umständen hat Frau Hingst versucht, sich der kollektiven Verantwortung, die die Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik Deutschland haben, zu entziehen. Aber ich glaube, dass der Wille, Opfer zu sein, stärker war als der Impuls, sich der Verantwortung zu stellen.
Sogar die Archivare der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashemsind Marie Sophie Hingst auf den Leim gegangen. Werden Akten weniger geprüft, wenn sie von einem gesellschaftlichen Trauma wie der Verfolgung und der Ermordung von Millionen Menschen erzählen ?
Das weiß ich nicht genau. Ich kenne die Abläufe der Verifizierung nicht, die in Yad Vashem vorgenommen werden. Ich würde vermuten, dass dort auch niemand auf die Idee gekommen ist, dass sich da jemand hochstaplerisch eingeschlichen hat.
In Deutschland erwacht, so hat man den Eindruck, neue Judenfeindlichkeit. Soeben erst rief der Antisemitismus- Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, dazu auf, als Zeichen der Solidarität mit Juden die Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, zu tragen. Schadet ein solches Verhalten wie von Frau Hingst der Sache der Juden?
Das glaube ich nicht. Wobei ich übrigens, da wir gerade dabei sind, von Herrn Klein erwartet hätte, dass er mehr über staatliche Interventionsmöglichkeiten gesprochen und sich nicht so sehr an die Zivilgesellschaft gewendet hätte. Die sorgt ohnehin für sich selbst. Ich zum Beispiel bin der Meinung, dass es zum obligatorischen Schulunterricht, zur obligatorischen Unterrichtung aller Lehrkräfte an Schulen gehört, über die Geschichte Deutschlands im Nationalsozialismus und den Holocaust während des Studiums informiert zu werden.
Wenn also die Sache mit Marie Sophie Hingst etwas Gutes hat, dann dass sie eine Art Weckruf ist?
So kann man das sagen. Das führt uns alle dazu, noch einmal erneut darüber nachzudenken, wie wir uns mit dem Holocaust auseinandersetzen, wenn - wie die Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Aleida und Jan Assmann, sagen - die Geschichte des Holocaust nun vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis übergeht, es also keine Zeitzeugen mehr gibt.
Micha Brumlik ist Erziehungswissenschaftler und Publizist. Er wurde als Kind deutscher jüdischer Eltern in der Schweiz geboren und lebt seit 1952 in Deutschland. Er ist emeritierter Professor im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2000 bis 2005 war er der Leiter des Fritz Bauer Instituts, eines Studien- und Dokumentationszentrums zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Als Publizist und Gastautor diverser Zeitungen veröffentlichte er Sachbücher, Essays und Artikel zur Geschichte des Judentums und zeitgenössischer jüdischer Themen.
Mit Micha Brumlik sprach Stefan Dege.