Holocaust an Sinti und Roma - "Die Jugend aufklären"
2. August 2024Sie wehren sich vergeblich: Mütter mit kleinen Kindern, alte und kranke Menschen werden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in die Gaskammern im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau getrieben. Es ist das Ende des sogenannten "Zigeunerlagers", arbeitsfähige Gefangene wurden vorher in andere Lager gebracht.
Allein in dieser Nacht ermordet die nationalsozialistische SS etwa 4300 Menschen - ein Schreckenstag des Völkermords an den Sinti und Roma in Europa, dem Porajmos.
Vom nächsten Morgen berichtet die jüdische Ärztin Lucie Adelsberger: "Da kamen plötzlich zwei Kinder von drei und fünf Jahren aus ihrem Block, die, in ihre Decken eingemummelt, alles überschlafen hatten. Die beiden Kleinen hielten einander an der Hand, weinend ob ihrer Verlassenheit. Sie wurden nachgeliefert." Das heißt: Auch sie wurden ermordet.
Insgesamt tötet das nationalsozialistische Deutschland bis zu 500.000 Menschen aus der größten europäischen Minderheit - in Lagern und Gettos, durch Gas und Erschießungen, Hunger, Zwangsarbeit, Krankheiten und Medizinversuche.
Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma 2024
2015 macht die Europäische Union den 2. August zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. An den Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag der Mordnacht nehmen neben Überlebenden und Angehörigen der Minderheit auch Politiker teil.
Als erste oberste Repräsentantin des deutschen Parlaments ist Bundestagspräsidentin Bärbel Bas dabei. Sie ließ vorab mitteilen: "Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus ist vielen immer noch nicht bekannt. Darum ist es mir sehr wichtig, beim Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma zu sprechen - und dazu beizutragen, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. Sie dürfen nicht vergessen werden."
Holocaust-Überlebender Christian Pfeil: "Ich bete, dass sich so etwas nicht wiederholt"
Neben Auschwitz gibt es in Europa unzählige weitere Orte der NS-Verfolgung. Wohl auch weil seine Familie im Gegensatz zu Verwandten nicht in Auschwitz landet, überlebt Christian Pfeil den Völkermord als Baby, zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern. So oft wie möglich spricht der heute 80-Jährige über die Verfolgung, sagt er der DW: "Sonst wären die vielen Menschen umsonst gestorben."
Er spricht in Schulklassen, am Holocaust-Gedenktag in New York vor den Vereinten Nationen, in Berlin, Brüssel und der Gedenkstätte Auschwitz. Vier Kinder seines Großonkels wurden hier getötet. In seiner Heimatstadt Trier erinnern Stolpersteine an sie und weitere NS-Opfer. "Ich hoffe, dass die zukünftigen Generationen aus der Geschichte lernen und bete, dass sich so etwas nicht wiederholt", sagt er 2022 in der Gedenkstätte Auschwitz.
"Rassistische Tendenzen gibt es in ganz Europa", warnt er. Antiziganismus ist die Form des Rassismus, die sich gegen Sinti und Roma richtet. Christian Pfeil wendet sich an junge Menschen: "Deswegen müsst ihr euch stark machen für die Demokratie - und Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus entschieden widersprechen. Besucht die Gedenkstätten und Orte der Verfolgung und macht euch selbst ein Bild davon, was die Menschen durchgemacht haben."
Geburt im Getto: Hunger, Kälte und Gewalt
Die Eltern und Geschwister von Christian Pfeil werden am 16. Mai 1940 frühmorgens aus ihrer Wohnung geholt. Aus ihrer Heimatstadt Trier, wo der Vater mit Instrumenten gehandelt hat, deportiert man sie in ein Sammellager nach Köln, dann ins deutsch besetzte Polen. Die älteste Schwester Berta ist zwölf, der jüngste Bruder Ludwig noch keine drei Jahre.
Christian Pfeil wird Anfang 1944 im Getto Lublin geboren, ein winziger Säugling. Die ganze Familie hungert und leidet unter schwerer Zwangsarbeit und Scheinhinrichtungen, das haben ihm Eltern und Geschwister berichtet. Wenn die SS-Offiziere abends feiern, muss der Vater Musik machen. Dafür bekommt er Essensreste. So bringt er die Familie durch, sagt sein Sohn.
Kleidung oder Windeln gibt es nicht für den Säugling. In Stofffetzen gewickelt habe ihn seine Mutter mitgenommen zur Zwangsarbeit und neben sich in den Schnee gelegt. Er macht eine Pause, schluckt. Im Lager hätten Aufseher und SS weinende Kinder getötet. Seine Mutter sagte ihm später, sie habe gedacht: "Lieber erfrierst du bei mir, als dass die furchtbaren Menschen in der Baracke dich umbringen."
Schüler in der Gedenkstätte Auschwitz
"Es war ein Wunder, dass wir überlebt haben", unter diesem Titel lädt der Verein "AG Frieden" im April 2024 zu einem Vortrag von Christian Pfeil in seiner Heimatstadt Trier ein. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt, viele kommen nicht rein. Auf dem Podium bei Christian Pfeil sitzen auch Schüler vom Auguste-Viktoria-Gymnasium in Trier. Anfang des Jahres haben sie die Gedenkstätte Auschwitz besucht.
Yannic Lange (17) sagt der DW, es sei eine prägende Erfahrung gewesen. Er erwähnt die persönlichen Gegenstände der Gefangenen, Schuhe, Kleidung, Brillen, besonders aber den Raum, in dem Berge von abgeschnittenen Haaren liegen: "Wer da nicht weint… Es ist klar, dass man da völlig von den Emotionen mitgenommen wird und sowas nicht mehr vergisst." Zuhause in Trier begegnen die Schüler dem Überlebenden Christian Pfeil und hören den Bericht über seine Familie.
"Zweite Verfolgung" von Sinti und Roma nach Kriegsende
Familie Pfeil kehrt nach der Befreiung durch die Rote Armee nach Trier zurück, weil es ihre Heimat ist. Doch Diskriminierung und Verfolgung sind 1945 nicht vorbei, das betont Christian Pfeil. Seine Angehörigen sind schwerkrank, arbeitsunfähig. Die Familie ist auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Auf den Ämtern sitzen immer noch die Menschen, die in der Nazizeit für ihre Deportation verantwortlich waren. Bei ihnen müssen sie um Hilfe betteln. "Hitler-Köpfe", habe sein Vater sie genannt. Christian Pfeil hat ihn oft begleitet, weil sein Vater Analphabet war. "Die waren enttäuscht, dass wir noch am Leben sind", sagt sein Sohn.
Deutschland erkennt den rassistischen Völkermord an der Minderheit erst 1982 an. 2022 spricht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über das fortgesetzte Unrecht gegen Sinti und Roma nach dem Kriegsende 1945, die "zweite Verfolgung". Er bittet Sinti und Roma um Vergebung.
Sich behaupten gegen Antiziganismus und Neonazi-Angriffe
Christian Pfeil berichtet, wie er in seiner Schulzeit mit dem Z-Wort beschimpft und verdächtigt wird, wenn etwas wegkommt. In der Kirche darf er nicht Messdiener werden. Er habe immer versucht, sich zu behaupten: "Mittelmaß geht nicht als Sinto." Pfeil wird Sänger und Gastronom, führt ein Szenelokal, in dem bekannte Musiker auftreten. Dann eröffnet er ein Speiselokal im alten Bahnhof Trier Süd, hat wieder Erfolg. Happy End? Nein.
Der Südwestfunk zeigt in den 1990er Jahren einen Film, in dem er ein Lied gegen die Nazi-Diktatur in seiner Muttersprache Romanes singt (mit deutschen Untertiteln): "Großdeutschland, Heil Hitler - nie wieder". Es folgt Telefonterror, erinnert er sich: Morddrohungen, Beschimpfungen. Dann wird sein Lokal verwüstet, mit Hakenkreuzen und SS-Runen beschmiert. Einmal renoviert Christian Pfeil und öffnet wieder, doch ein zweiter Angriff zerstört alles. "In Trier gibt es keine Rechtsradikalen", habe ihm der damalige Bürgermeister gesagt.
"Da hat mich der Mut verlassen." Erst will er ins Ausland, doch dahin könnten seine älteren Geschwister nie kommen, weil sie geschlossene Räume nicht ertragen, nicht in Züge oder Flugzeuge steigen können. So führt er noch einige Jahre einen Landgasthof. Dann kehrt er nach Trier zurück, wo er 2024 den Ehrenbürgerbrief erhält.
Kampf gegen Antiziganismus
Viel hat sich verändert seit den 90er Jahren: Deutschland hat mit Mehmet Daimagüler einen Antiziganismus-Beauftragten. Er warnt vor Rassismus gegen die Minderheit und drängt auf gesetzliche Änderungen. Bundesregierung und Bundesländer haben eine ständige Kommission für das Leben von Sinti und Roma eingesetzt. Zugleich werden mehr antiziganistische Vorfälle bekannt. Die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) verzeichnete für 2023 mit über 1200 Fällen fast doppelt so viele wie im Vorjahr, darunter zehn Fälle extremer Gewalt. In 80 Fällen sei der Antiziganismus von der Polizei ausgegangen. 2024 meldet eine Trierer Sinti-Familie Hakenkreuze an ihrer Tür.
Trier hat Wohnungen für viele Sinti-Familien gebaut. Direkt neben dem Trierer Dom erinnert seit 2012 ein Mahnmal an die Verfolgung der Sinti und Roma. Von hier aus starten Rundgänge des Vereins "Buntes Trier" zu Orten der Verfolgung.
Zur Gedenkfeier am Jahrestag der Deportation, dem 16. Mai, mahnt Christian Kling, Vorsitzender des Landesverbands der Sinti und Roma in Rheinland-Pfalz: "Wer seine Geschichte nicht kennt, der ist dazu verdammt, sie zu wiederholen." Er betont, dass die Verfolgten Deutsche waren. 80 Jahre, sagt er der DW, "das ist ein Katzensprung in der Geschichte der Menschheit".
Enzyklopädie zum NS-Völkermord an Sinti und Roma
Die Geschichte kennen - dazu braucht es Forschung. "Wenn man sich mit Auschwitz und der Verfolgung von Sinti und Roma beschäftigt, muss man leider feststellen, dass es sehr wenig Forschung gibt", sagt Karola Fings der DW. Die Historikerin an der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg hofft, dass der 80. Jahrestag ein Anlass ist, Defizite aufzuholen.
Ein Anfang ist gemacht. Fings leitet das internationale Projekt "Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa". Das Online-Nachschlagewerk soll auf 1000 Artikel auf Deutsch und Englisch anwachsen. Es informiert über Tatorte, Lebenswege und die Verfolgung in ganz Europa.
"Wir müssen die Jugend aufklären"
Auschwitz, New York, Trier - wo immer Christian Pfeil spricht, wendet er sich an Jugendliche.
"Der Rechtsradikalismus ist in Europa auf dem Vormarsch", warnt er: "Wir müssen uns dagegen wehren. Wir müssen die Jugend aufklären!"
Welche Botschaft nehmen die Jugendlichen mit? Yannic Lange antwortet, "dass wir engagiert und informiert bleiben sollen und natürlich, dass wir wählen gehen". Der Schüler stimmt zu: "Man muss einfach aufpassen, wie sich die Gesellschaft entwickelt. Man muss auch aufpassen, dass man seinen Teil zu der richtigen Entwicklung beiträgt."