Hochwasser setzt Polens Premier Tusk unter Druck
30. September 2024In gut zwei Wochen begeht die Mitte-Links-Koalition in Polen den ersten Jahrestag ihres Sieges bei der Parlamentswahl am 13.10.2023. Er hatte dem Oppositionsbündnis unter dem ehemaligen Präsident des Europäischen Rates und vormaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk den Weg zurück an die Macht eröffnet. Doch dem polnischen Regierungschef ist derzeit nicht zum Feiern zumute. Sein unglückliches Agieren am Anfang der Hochwasserkatastrophe Mitte September brachte ihm nicht nur von Seiten der national-konservativen Opposition viel Ärger ein.
Das Unwetter, das der Sturm "Boris" ausgelöst hatte, traf weite Gebiete in Mittel- und Osteuropa. Nach Rumänien, Tschechien und Österreich erreichte das Hochwasser auch Polen. Die Flutwelle auf der Oder und ihren Nebenflüssen traf in der Nacht vom 14. auf den 15.09.2024 mit voller Wucht mehrere Ortschaften im Glatzer Land in Niederschlesien.
Die Dämme brachen, die Wassermassen zerstörten mehrere Ortschaften in der Region. Tausende Menschen blieben ohne Strom und wurden von der Außenwelt abgeschnitten, andere mussten evakuiert werden - teilweise aus der Luft. Mehrere örtliche Bürgermeister beklagten, dass sie gar nicht oder zu spät vorgewarnt worden waren. Bisherige traurige Bilanz: neun Tote und ein Vermisster.
Die Opposition nutzt die Flut zum Angriff auf Tusk
Die national-konservative Opposition um Jaroslaw Kaczynski, Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), witterte sofort ihre Chance zum Angriff auf die Regierung. Argumente zur Kritik hatte Tusk selbst geliefert. Denn nach einem Krisentreffen in Wroclaw (Breslau) am 13. September, also am Vortag der Katastrophe, hatte er vor Journalisten erklärt, die Wetterprognosen seien "nicht übermäßig alarmierend". "Es gibt heute keinen Grund zur Panik", versicherte der Premier und sprach lediglich von der Möglichkeit "lokaler Überflutungen". Gleichwohl rief er die Behörden auf, "voll mobilisiert zu sein", ein Satz, den seine Kritiker unterschlagen.
Die Worte des Premiers wurden von der PiS als Verharmlosung der Bedrohung kritisiert, obwohl Kaczynskis Partei selbst an diesem kritischen Wochenende eine Demonstration vor dem Justizministerium in Warschau veranstaltet hatte, statt den Flutopfern zu helfen.
Hat Tusk die Gefahr verharmlost?
"Die Regierung hat leider versagt", sagte Kaczynski am 22.09.2024 in einem Interview mit der Polnischen Nachrichtenagentur PAP. Die Menschen, die um ihre Häuser, um ihre Städte kämpften, würden "sich selbst überlassen". Es herrsche Chaos. Polen werde von "Dilettanten oder Amateuren" regiert.
"Der Staat ist zusammengebrochen - Tusks Flutdesaster", titelte im selben Ton das Sprachrohr der Opposition, Gazeta Polska. Die Regierung habe "Arroganz und mangelndes Verantwortungsbewusstsein" gezeigt, fügte der Vorsitzende der PiS-Fraktion im Parlament, Mariusz Blaszczak hinzu.
Die verbalen Attacken wurden am vergangenen Freitag (27.09.2024) im Sejm fortgesetzt. Nach einer Regierungserklärung Tusks zur Lage in den Überschwemmungsgebieten sagte Ex-Premier Mateusz Morawiecki: "Die Regierenden haben die Prüfung nicht bestanden."
Laut Morawiecki hatte die Europäische Kommission bereits am 10. September vor starken Regenfällen gewarnt. "Die Regierung hat aber nichts getan", kritisierte er. Morawiecki ging nochmals auf Tusks abwiegelnde Äußerung vom 13. September ein und bezeichnete sie als "Worte der Schande".
"Diese Worte sind kein einfacher Fehler. Diese Worte, die die Menschen vielleicht das Leben und die Gesundheit und sicher den Verlust ihres Eigentums gekostet haben, hatten zur Folge, dass Rettungsdienste, Kommunalbehörden und Menschen nicht einsatzbereit waren", sagte der Ex-Premier.
Bedient sich Tusk der Methoden Putins?
Um den Schaden nach seiner unüberlegten Äußerung zu begrenzen, griff Tusk zu einem ungewöhnlichen Schritt: Er ließ die Beratungen des von ihm geleiteten Krisenstabes, der zweimal täglich zusammenkam, stundenlang live im Fernsehen übertragen. Dabei wurde mancher Beamter und Kommunalpolitiker vor den Kameras scharf gerügt.
Diese Methode der direkten Kommunikation mit der Gesellschaft gefiel nicht allen. Manche fühlten sich an die Methoden des russischen Staatschefs Wladimir Putin erinnert.
Die bisherige Bilanz des Hochwassers ist verheerend. Der Katastrophenzustand, der am 20. September verhängt wurde, betraf 750 Ortschaften mit 2,4 Millionen Einwohnern. 57.000 Menschen wurden von der Flut direkt in Mitleidenschaft gezogen. Das Wasser beschädigte mindestens 11.500 Wohnhäuser.
Der Aufbau beginnt - schnelle Hilfe für Flutopfer
Tusk weiß, dass sein politisches Schicksal von der Fähigkeit seiner Regierung abhängt, die Folgen des Hochwassers schnell in den Griff zu bekommen. Bis Ende vergangener Woche gab seine Regierung 623 Millionen Zloty (146 Millionen Euro) als Hochwasserhilfe für Betroffene frei. Doch das ist erst der Anfang. Insgesamt soll die Regierung nach eigenen Angaben - zusammen mit versprochenen EU-Mitteln - bis zu 23 Milliarden Zloty für den Aufbau verfügen.
Ein vorbereitetes Sondergesetz soll Dutzende Vorschriften ändern, damit die Hilfe für Opfer des Hochwassers schneller und ohne bürokratische Hürden geleistet werden kann.
Damit nichts schiefgeht, hat Tusk einen seiner engsten Vertrauten, Marcin Kierwinski, zum Bevollmächtigten für den Aufbau im Range eines Ministers ernannt. Der Ex-Innenminister verzichtete dafür sogar auf sein Mandat im Europaparlament, das er erst im Juni 2024 erobert hatte.
Diese Entscheidung beeindruckte sogar Präsident Andrzej Duda, einen entschiedenen Widersacher der Regierung. "Ich bin Ihnen im Namen der Polnischen Republik dankbar. Nicht jeder wäre dazu bereit. (…) Sie haben eine staatstragende Entscheidung getroffen", lobte Duda bei der Überreichung der Ernennungsurkunde.
Viel Zeit bleibt Kierwinski nicht. Im Sommer 2025 findet die Präsidentenwahl statt. Nach zwei Legislaturperioden kann Duda nicht mehr kandidieren. Bisher hoffte das Tusk-Lager auf den Sieg eines liberalen Kandidaten, um die jetzige Blockade durch den Präsidenten zu durchbrechen. Ein Scheitern bei der Beseitigung der Flurschäden könnte die Chancen eines konservativen Konkurrenten verbessern und Tusks Pläne durchkreuzen.