Hitler 1933 - eine Machtübernahme mit verheerenden Folgen
29. Januar 2023Theoretisch hätte alles ganz anders kommen können. Denn Anfang der 1930er-Jahre sah es ganz danach aus, als schlitterten Hitler und seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP ) auf ihr Ende zu. Das sagt der deutsch-israelische Historiker und Schriftsteller Dan Diner über den Vorlauf der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933. Die NSDAP und ihr Vorsitzender Hitler hatten im Herbst 1932 herbe Rückschläge zu verkraften. Selbst Zeitgenossen zeigten sich von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler überrascht.
Dass er es dann doch an die Spitze schaffte, sollte grausame Folgen haben. 60 Millionen Tote weltweit, sechs Millionen Juden ermordet, hinzu kamen Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung und Homosexuelle, die umgebracht wurden. Der 30. Januar 1933 war eine der großen Zäsuren der Geschichte.
"Machtergreifung" war Machtübergabe
Das Datum sei "ein archimedischer Punkt deutscher Geschichte geworden", sagt Dan Diner im DW-Interview. "Da ist etwas geschehen, das uns als Historiker, aber auch als Zeitgenossen die Zeit davor und danach ermessen lässt. Es ist vielleicht einer der herausragendsten und in seiner Sichtbarkeit bedeutendsten Stichtage der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert."
Das fängt schon bei der Bezeichnung "Machtergreifung" an - eine gezielte Wortschöpfung der Nazi-Propaganda. Am 30. Januar wurde die Macht nicht von Hitler ergriffen, sie wurde an Hitler übergeben: Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte ihn zum Reichskanzler. Dabei hatte sich der betagte General lange gegen Hitler gewehrt, ihm trotz guter Ergebnisse an der Wahlurne im August 1932 das Kanzleramt verweigert, eine der größten Niederlagen Hitlers.
"Hitler war nicht nur ein Unfall"
Der britische Historiker Ian Kershaw zählt in seinem 1998 erschienen Standardwerk zur Person Hitlers verschiedene Faktoren auf, die den Ausschlag für die Machtübernahme gaben: Zum einen nennt er den Prozess der Aushöhlung der Demokratie in der Weimarer Republik, um eigene, oft wirtschaftliche, Interessen zu wahren oder durchzusetzen. Außerdem die absolute Entschlossenheit der Rechtskonservativen, die Demokratie "auszuschalten und den Sozialismus zu zerstören".
In den Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise habe man wieder auf ein autoritäres System gesetzt, doch der Macht- und Zerstörungswille Hitlers sei von vielen Seiten immer wieder unterschätzt worden. "Hitler war nicht das unausweichliche Ergebnis eines deutschen 'Sonderwegs'", so Kershaw, aber auch "nicht nur ein Unfall". Hitler müsse in seinem zeitlichen Kontext gesehen werden: Krieg, Revolution, nationale Demütigung und Angst vor dem Bolschewismus.
Natürlich seien damals viele Faktoren im Spiel gewesen, sagt auch Historiker Dan Diner, der zu dem Thema viele vergleichende Forschungen unternommen hat. Besonders die Wirtschaftskrise und die Struktur der Weimarer Verfassung, durch die radikalisierte Parteien schnell ins Parlament kommen konnten, sind für ihn wichtige Elemente.
Und trotzdem beobachtet er eine Gegenläufigkeit: Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler sei ein überraschendes Ereignis gewesen, betont Dan Diner. "Die NSDAP war am Ende. Seit Herbst 1932 war ein Wirtschaftsaufschwung zu erkennen. Die NSDAP war im Abschwung, die Wirtschaft im Aufschwung begriffen. Und genau an diesem Punkt wird Hitler zum Reichskanzler berufen. Das hätte eigentlich nicht sein sollen."
Das sahen auch Zeitgenossen so. Der Deutschlandkorrespondent der New York Times schrieb damals, dass Hitler "seine Chance wohl verpasst" habe und nun als bayerischer Provinzpolitiker enden werde.
"Keime der Möglichkeit": Hätte die Geschichte auch anders verlaufen können?
Die Frage nach der Zwangsläufigkeit der Machtübernahme lässt den Historiker Dan Diner nicht los. In einer besonderen Ausstellung, die gemeinsam mit der Alfred Landecker Foundation (Vorstand: Dan Diner) realisiert wurde, spielt das Deutsche Historische Museum in Berlin mögliche Szenarien durch, die den Verlauf der Geschichte hätten ändern können - ein durchaus ungewöhnlicher Ansatz der Geschichtsbetrachtung: Die Ausstellung "Roads not taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können" (Konzeption: Dan Diner, Kuratorinnen: Julia Franke und Lili Reyels) widmet sich noch bis zum 24. November 2024 diesen Fragen - und zwar nicht nur im Hinblick auf 1933, sondern auch auf andere zentrale Daten deutscher Geschichte von 1848 bis zum Fall der Mauer 1989.
"Dabei geht es nicht um kontrafaktische Geschichte", präzisiert Dan Diner, "sondern man lehnt sich über die Brüstung der Wirklichkeit, um zu sehen, was unten für Keime der Möglichkeit bestanden haben, die aber dann in die Geschichtserzählung nicht mehr eingehen."
Im Hinterzimmer: Wie Hitler Reichskanzler wurde
Zentrale historische Ereignisse werden wie unter einem Mikroskop seziert. Dass etwa Hitler 1933 zum Reichskanzler wurde, war wesentlich auch ein Produkt von verworrenen Intrigen und Ränkespielen in den Hinterzimmern der Macht. Dabei spielten eine Vielzahl von Personen unheilvolle Rollen, allen voran Franz von Papen, der als Reichskanzler mangels Mehrheit im November 1932 hatte zurücktreten müssen, und der nun eine Chance sah, wieder an die Macht zu gelangen. Seine Rechnung ging (zunächst scheinbar) auf: In der Regierung Hitler-Papen-Hugenberg wurde er am 30. Januar 1933 zum Vizekanzler ernannt.
Von Papen (1921-1932 Mitglied der Zentrumspartei, dann parteilos, ab 1938 NSDAP-Mitglied) war ein Vertrauter von Hindenburg. Er handelte mit Hitler im Januar 1933 die Bedingungen für eine Kanzlerschaft und eine gemeinsame Regierung aus, und überzeugte schließlich auch Hindenburg, dass dies der richtige Weg sei.
Hugenberg war Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und wurde mit einem verlockenden Posten als Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung geködert, wenn er der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zustimmen würde. Schon einen Tag später soll Hugenberg seine Zusage bereut haben: "Ich habe gestern die größte Dummheit meines Lebens gemacht; ich habe mich mit dem größten Demagogen der Weltgeschichte verbündet", soll er seinem engsten Mitarbeiter, Reinhold Quaatz, gesagt haben.
Der amtierende Reichskanzler Kurt von Schleicher widersetzte sich dieser Allianz nur halbherzig. Nach einem Gespräch mit Hindenburg reichte er seinen Rücktritt ein, der Reichspräsident schrieb ihm: "Ich danke Ihnen, Herr General, für alles, was Sie für das Vaterland getan haben. Nun wollen wir mal sehen, wie mit Gottes Hilfe der Hase weiterläuft."
Im Januar 1933 ließen sich die Beteiligten auch durch eine scheinbare Mäßigung von Hitlers Forderungen (noch im August 1932 hatte er das Kanzleramt und vier zentrale Ministerposten gefordert, nun wollte er "nur" das Kanzleramt, das Reichsministerium des Inneren und das preußische Innenministerium) von der Hoffnung leiten, der NSDAP-Chef würde sich bei einer Einbindung in die Regierung sozusagen "zähmen" lassen. Ein monumentaler Trugschluss. Schleicher war einer der Ersten, der Hitler zum Opfer fiel. Er hatte sich wiederholt abfällig über die Nationalsozialisten geäußert, woraufhin SS-Schergen ihn und seine Frau am 30. Juni 1934 in seinem Haus erschossen.
Wehret den Anfängen: Lehren für die heutige Zeit
"Es gibt diesen einen Satz von Hitler: 'Ihr habt mich gefunden.' Puh, da läuft es mir kalt den Rücken runter. Als würden hier irgendwelche magischen Kräfte im Gange sein, die eine Person in eine Situation hineinbewegen, die eine nukleare Sprengkraft entwickelt", sagt der Historiker Dan Diner über den Gang der Geschichte. Die Perspektive der Ausstellung macht deutlich: Auch Machtgier und persönliche Interessen einzelner Akteure haben Hitler den Weg geebnet.
Ein weiterer wichtiger Punkt war die finanzielle Unterstützung der NSDAP durch deutsche Unternehmen. Wirtschaftlich ging es der Partei 1932 nämlich gar nicht gut. Welche Rolle die Industriellen in dieser Zeit spielten und wie sie Hitler im Wahlkampf unterstützten, beschreibt zum Beispiel der Politikwissenschaftler, Historiker und Finanzjournalist David de Jong in seinem Buch "Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien" (2022).
Dan Diner betrachtet Geschichte auch im Spiegel von Gegenwartsfragen. Gerade in den Krisen von heute erkennt er Parallelen zum Gestern, auch im Hinblick auf das Jahr 1933: "Das große Problem war, dass die Institutionen, die die Demokratien sicherten, zusammengebrochen sind", so der Historiker. Dies habe einen massiven Kontrollverlust zur Folge gehabt. In der letzten Phase der Weimarer Republik wurde nur noch über Notverordnungen regiert, das Parlament war blockiert, Reichspräsident Hindenburg konnte nach eigenem Gutdünken Kanzler ernennen und entlassen.
Die Institutionen achten
Welche Lehren müssen wir heute daraus ziehen? Dan Diners Antwort ist einfach, aber bedeutungsvoll: "Man lernt daraus, die Institutionen zu achten." Und die Augen offen zu halten: Obwohl die "Sturmabteilung" (SA), die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP, am Abend des 30. Januar 1933 mit einem Fackelzug durch das nächtliche Berlin zum Brandenburger Tor zog, nahmen die meisten Menschen die beginnende Katastrophe offenbar nicht zur Kenntnis. Große Teile der seriösen Presse sahen in der neuen Regierung keinen Grund zur Sorge. Nur wenige erkannten die Gefahr. Doch ihre Warnungen wurden nicht gehört.
Mehr Informationen zum Thema Holocaust-Erinnern in unserer Doku "Zukunft des Erinnerns".